Blog, Industrie 4.0

#221 – «Deep-Tech» tiefgreifende Technologie

Kritische Akteure im Co-Design
Die nächste grosse Welle, nach der Pandemie, wird von einem Innovationsschub neuer Technologien und dem Ansatz von Deep-Tech-Unternehmern angetrieben. Die wirtschaftlichen, geschäftlichen und sozialen Auswirkungen werden überall spürbar sein, da Deep-Tech-Projekte darauf abzielen, viele unserer komplexesten Probleme zu lösen. Die Welle umfasst unter anderem künstliche Intelligenz (KI), synthetische Biologie, Nanotechnologien und Quantencomputer. Noch bedeutender sind jedoch die Konvergenzen von Technologien und Ansätzen, die Innovationen in den kommenden Jahrzehnten beschleunigen und neu definieren werden. Im Beitrag von Antoine Gourévitch, Massimo Portincaso, Arnaud de la Tour, Nicolas Goeldel, and Usman Chaudhry, BCG Boston Consulting Group vom 11. März 2021, untersuchen die Autoren wie die Revolution im Co-Design Gestalt annimmt. Jüngstes Beispiel für ein solches Ökosystem sind Moderna und das Team von BioNTech und Pfizer, welche beide gleichzeitig zwei COVID-19-Impfstoffe, von der Genomsequenz bis zum Markteintritt, in weniger als einem Jahr geschafft hatten. Obwohl diese Unternehmen bemerkenswerte Arbeit mit unerhörter Geschwindigkeit leisteten, profitierten sie vom Beitrag vieler weiterer Partner, darunter auch Regierungen, Hochschulen, Risikokapital und Grossunternehmen. Diese sind die kritische Akteure in der kommenden Welle.

Praktische Ausbildung für Zeichner, circa 1970er Jahre. Bild: rarehistoricalphotos.com, AIA Europe

Der Deep Tech Unterschied
Als Deep-Tech werden Firmen bezeichnet, die sich herausfordernden technischen oder wissenschaftlichen Problemen widmen mit dem Ziel, marktfähige Produkte zu entwickeln. Dabei stehen sie meist an der Schnittstelle zwischen Forschung und Anwendung. Als Preis für das hohe Risiko, die hohen Investitionen und den langfristigen Zeithorizont locken Patente, Marktvorteil und – langfristig – hohe Gewinne. Deep-Tech boomt, weltweit. In den wichtigsten Sektoren – Biotechnik, künstliche Intelligenz, Photonik und Elektronik, Drohnen und Roboter, Materialwissenschaft, Blockchain und Quantencomputer – sind die Investitionen zwischen 2015 und 2018 um durchschnittlich 22 Prozent pro Jahr angestiegen. (Siehe dazu auch: NZZ vom 23. Mai 2021). Erfolgreiche Deep-Tech-Projekte bringen mehrere Talente (einschliesslich Wissenschafter, Ingenieure und Unternehmer) zusammen, um ein Problem zu lösen. Oft entwickeln sie brandneue Technologien, weil keine vorhandene Technologie das vorliegende Problem vollständig löst. Oder sie entwickeln neue Anwendungen für etablierte Technologien. Erfolgreiche Deep-Tech-Unternehmen weisen in der Regel vier komplementäre Merkmale auf: Sie sind problemorientiert, arbeiten an der Konvergenz von Technologien und entwickeln meist physische Produkte und keine Software. Sie befinden sich im Zentrum eines tiefgreifenden Ökosystems.

Deep-Tech als vierte Innovationswelle
Die erste Welle moderner Unternehmensinnovationen begann im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit Durchbrüchen wie dem Bessemer-Verfahren zur Herstellung von Stahl oder dem Haber-Bosch-Verfahren zur Herstellung von Ammoniak. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte die zweite Welle moderner Unternehmensinnovationen – die Informationsrevolution – die Forschung und Entwicklung grosser Unternehmen hervor, insbesondere in den Bereichen IKT (Informations- und Kommunikationstechnologie) und Pharma. Die dritte Welle umfasst die digitale Revolution wie beispielsweise der Aufstieg des «Silicon Valley» als globales Zentrum für Computer- und Kommunikationstechnologie. Die vierte Welle, die jetzt Gestalt annimmt, umfasst ein neues Modell und verspricht, die Innovation in jedem Unternehmensbereich radikal zu erweitern und zu vertiefen. Die steigende Leistung und sinkende Rechenkosten (Kosten für Ausrüstung, Technologie und Zugang zur Infrastruktur), sowie der Aufstieg der Technologieplattformen sind die wichtigsten Faktoren. Die Konvergenz von Ansätzen und Technologien treibt Innovationen voran und löst Probleme, für die bisher keine Lösungen verfügbar waren (Beispiele sind autonome Fahrzeuge, das IoT Internet der Dinge und Robotik). Der Design-Build-Test-Learn-Zyklus (DBTL) verringert das Risiko und beschleunigt die Produktentwicklung (mittels Modelling) sowie die Zeit bis zur Kommerzialisierung.

Iterative Entwicklung mit breiter Beteiligung
Der DBTL spielt im Bereich Deep-Tech, wie im Software-Design, eine Schlüsselrolle. Mit jeder Iteration des Produkts, dient der Deep-Tech-DBTL-Zyklus als Hauptinstrument zur Risikoreduzierung und gilt als Meilenstein für die weitere Entwicklung. Der Kern des Innovationsprozesses bildet immer noch die Entwurfsphase, in der ein Grossteil des Werts geschaffen wird. Hier beschleunigt der schnelle Zugang zu Informationen und billige, leistungsfähige Computer einen hypothesengetriebenen Prozess. Ingenieure können Prototypen scannen und mit Sensoren ausstatten, um Echtzeit-Leistungsdaten bereitzustellen, die in den Entwurfsprozess zurückfliessen und es dem Objekt ermöglichen, sich selbst gemeinsam zu entwerfen. Designer können erweiterte- und künstliche-Realität einsetzen, um ein Produkt zu entwickeln, ohne es physisch herstellen zu müssen. Dadurch wird die Anzahl der benötigten physischen Prototypen verringert und die Genauigkeit jeder Iteration erhöht. Dieser Ansatz senkt gleichzeitig die Baukosten und verbessert das Produktdesign. Wenn fortschrittliche Technologien zugänglicher werden, können mehr Menschen an der Entwurfsphase teilnehmen, auch wenn sie keinen umfassenden wissenschaftlichen Hintergrund haben.

Das Team als Erfolgsfaktor
Am Beispiel der Impfstoffentwicklung von Moderna zeigen die Autoren von BCG, wie das Unternehmen auch von einem ausgewogenen Team (von Gründern) profitierte, die über relevante wissenschaftliche, technische und geschäftliche Fähigkeiten verfügen. Darüber hinaus wurde ein umfassendes Ökosystem von Investoren, Partnern und Unterstützern erschlossen. Moderna war erfolgreich, weil es positive Antworten auf diese grossen Fragen fand: Das Paradigma, wonach menschliche Körperzellen dazu führen, bestimmte Proteine ​​selbst zu produzieren, um sich selbst zu verteidigen. Die Theorie, wonach mRNA (genetisches Sequenzmolekül) verwendet werden kann, um die Proteinproduktion von Zellen neu zu programmieren, um mit der Verwendung von mRNA die Entdeckungszeit für einen COVID-spezifischen Impfstoff von Jahren auf Monate zu verkürzen. Moderna hinterfragte dabei die bislang akzeptierte Realität und senkte die Entwicklungskosten und die Entwicklungszeit ausreichend, um eine kostengünstige Prävention auch bei weiteren Krankheiten zu ermöglichen. Das Antizipieren von Problemen ist natürlich nicht spezifisch für Deep-Tech-Unternehmen, aber es ist ein Schlüsselfaktor für deren Erfolg.

Erfahrung der «Alten» nutzen
Wir Menschen sehen nicht immer schnell, wie Wissenschaft und Technologie Prozesse umgestalten, oder Probleme lösen können. Unternehmen brauchten 20 Jahre, um die «Fabrik» zu überdenken, nachdem Elektromotoren den Dampf ersetzt hatten. Bekanntlich gibt es ohne Vergangenheit keine Zukunft. Kompetente «Alte» mit ihrer breiten Erfahrung gehören deshalb in die Zusammensetzung von gemischten Teams. Bei allem Schaden, den das Virus anrichtet, hat die COVID-19-Pandemie auch die Fähigkeit von Deep-Tech beleuchtet, ein menschliches Problem von historischem Ausmass schnell, effizient und zu relativ geringen Kosten zu lösen. Die Welt steht noch vor anderen grossen Problemen, beginnend mit dem Klimawandel. Das Potenzial von Deep-Tech für Disruption ist beispiellos, um anstehende Probleme zu lösen.

«kompetenz60plus.ch»
Mit unserer Erfahrung und Engagement aus der analogen Welt sind wir «Alten» gerüstet, im Team zusammen mit dem digitalen Wissen der «jungen Wilden», Prioritäten und Engagement in Ergebnisse umzusetzen. «kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation bewusst sind und sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. Bitte bringen Sie sich ein und registrieren Sie Ihre Kompetenz kostenlos hier. Wir freuen uns auch über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch, oder hinterlassen Sie Ihren Kommentar weiter unten. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


Ein Projekt «von uns. für uns.»
Web: kompetenz60plus.ch I Mail: werner@kompetenz60plus.ch I
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#220 – Mix von Daten und Systemen

Herausforderung Altsysteme
Wir werden immer älter und mit uns die verwendeten Systeme. An diese haben wir uns derart gewöhnt, dass wir jeder Veränderung oder Aktualisierung mit grösster Skepsis begegnen. Mit unserem Verharren in alten Mustern sind wir unbewusst auch eine Gefahr für die Sicherheit im Netzwerk. Ohne kompatible Geräte und Programme stossen wir immer wieder an Grenzen, müssen oft händisch überbrücken. Digitale Technologien verändern sich rasend schnell, mit entsprechendem Einfluss auf die Entwicklung vertrauter Applikationen, die sich plötzlich nicht mehr aktualisieren lassen. Neue Massstäbe hinsichtlich Sicherheit und Kundennutzen setzen beispielsweise das Zahlungs- und Bankenwesen, der öffentliche Verkehr oder die Post. Es ist wichtig, nicht den Moment zu verpassen, wenn die Systeme, die man nutzt, die eigenen Bemühungen am «Wachsen» hindern. Sei es beim Bewerbungsprozess für eine neue Stelle, oder bei der täglichen Arbeit in seinem KMU. Trotz diesem Hintergedanken sind wir oftmals dennoch unschlüssig, weil wir den Austauschprozess als zu teuer, riskant und umfangmässig als zu komplex einschätzen. Damit resultiert eine Verschiebung unseres Fokusses auf die Instandhaltung bestehender Systeme, was enorme Ressourcen in Beschlag nimmt und mitunter riskante Umwege erfordert. Die Herausforderung in Bezug auf die Altsysteme ist real.

L’Oeuf Electrique, 1942 von Paul Arzens, Künstler, Ingenieur und Designer. Bild: Michel Zumbrunn – Chassis Aluminium, Reichweite 96km, Höchstgeschwindigkeit 70km

Digitale Abstinenz
Milliarden von Menschen haben dank digitaler Technologie weitreichenden Zugang zu Dienstleistungen und Informationen, was noch vor ein paar Jahrzehnten unvorstellbar war. Doch es gibt sie noch immer, die «Verweigerer». Seit bald dreissig Jahren werden die immer gleichen Gründe für das digitale Abseitsstehen ins Feld geführt. Man schätzt sich zu alt für Neues, obwohl wir heute noch bis ins hohe Alter aktiv sind. Den vermeintlichen Verlust an Privatheit durch Datenmissbrauch, steuern wir selbst durch unser Verhalten, indem wir nur soviel von uns preisgeben, wie absolut notwendig. Auch deshalb lohnt sich ein regelmässiges Update und Aufräumen der Systeme. Unbedingt.

Vom Umgang mit den eigenen Daten
Nur weil wir nichts zu verbergen haben, heisst noch lange nicht, dass wir alle unseren Informationen mit allen bedingungslos teilen möchten. Da hilft es, sich mit den Vorgängen im Hintergrund der «Wischbewegungen» vertraut zu machen. Auch wir «Alten» sind in der Pflicht, uns zu informieren. Wer weiss schon, was morgen sein wird, welche Gesetze in zehn oder zwanzig Jahren gelten werden, wie künftige Regierungen und Regime unsere Handlungen – und Daten – von heute in welchem Kontext neu oder anders beurteilen werden. Welche Datensätze mit welchen anderen Informationen verknüpft werden und zu wieder neuen Zwecken verwendet oder welche Korrelationen und Ableitungen daraus gezogen werden. Im Interview mit René Scheu, NZZ vom 11. Mai 2021, über die digitale Mündigkeit, definiert Anna Zeiter, Global Chief Privacy Officer von Ebay, diese so: «Ich bin Herr meiner Daten und bestimme selbst, wer welche Informationen über mich wann bekommt». Sie bestreitet, dass digitale Kunden überall Datenspuren hinterlassen und für die Tech-Firmen so durchsichtig wie Wasser sind. Deren Privatheit schwindet nicht, auch die Freiheit erodiert nicht. Wir hatten noch nie so viel Datenschutz und als Nutzer noch nie so viele Rechte wie heute, gerade in Europa und in den USA. «Datensouveränität» oder «Datenkompetenz» könnte ein neues Schulfach heissen, das schon in der Primarstufe gelehrt wird. Der Umgang mit den eigenen Daten, die jeder von uns laufend produziert, gehört zu den Kernkompetenzen mündiger Bürger im 21. Jahrhundert.

Datensicherheit
In einer total vernetzten Welt gibt es keine absolute Datensicherheit. Landes- und Kulturgrenzen gibt es im Internet keine. Daten unterscheiden nicht zwischen Original und Kopie, auch «Blockchains» können angegriffen werden. Die Frage nach der Datensicherheit ist einer der grossen Streitpunkte der gegenwärtigen Debatte um neue Kampfflugzeuge für die Schweiz. Der Beitrag von Georg Häsler und Lukas Mäder, NZZ vom 12. Mai 2021, macht klar, der Kampfjet ist Teil eines elektronischen Gesamtsystems – die totale Autonomie gibt es nicht. Ein Kampfjet ist eine multifunktionale Plattform, ausgerüstet mit Sensoren, um Gefahren zu sehen, und Waffen, um diese zu bekämpfen. Das Flugzeug ist aber auch Teil eines komplexen elektronischen Netzwerks, auch wenn es im Einsatz keine stehenden Verbindungen zu den Herstellern und Herstellerländern gibt. Für Wartung und Einsatzplanung vertraut man auf Speichermedien die von Menschen physisch verschoben werden. Doch die Kompromittierung der Software-Aktualisierungen kann bereits früher geschehen: beim Hersteller oder gar bei einem Zulieferer. Die Sicherheit der Lieferkette muss deshalb höchste Priorität haben. Autonom sind solche Systeme trotzdem nicht, denn die Interoperabilität, also die Fähigkeit, möglichst eng mit Verbündeten zusammenzuarbeiten ist zentral. Die Cyberbedrohung lässt Räume verschmelzen. Die Landesverteidigung hält sich nicht mehr an die Landesgrenze. Der Schutz der Systeme erfolgt deshalb im Verbund effektiver als im Alleingang. Das gilt auch im privaten Bereich.

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Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
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#202 – Ü’s und U’s – «Alte» in der Krise

«Die Alten», darf man das überhaupt noch sagen?
Ein Blog-Leser schrieb:

«Ich werde ab November 2020 nur noch mit einem 50% Teilzeitpensum arbeiten. Zu meiner Frau sage ich dabei hin und wieder, dass ich nun schon ein «Alter» sei. Da meinte sie, wieso beschreibst du dich selber als alt, du bist es ja gar nicht. Und so denke ich, dass unter «kompetenz60plus» weniger von «Alten» geschrieben werden sollte. Vielleicht gäbe es dafür passendere Namen, welche in der Aussenwahrnehmung positiver rüber kämen. Wir sind doch noch keine Alten, sondern Senioren mit Lebenserfahrung, Silberrücken, Know-How-Träger mit Erfahrung, etc.»

Als Architekt in Los Angeles hatte ich eine Kundin, die anstatt nach dem WC, nach dem «little girl’s room» fragte, um sich die Nase zu pudern. Solche Euphemismen sind einfach lächerlich. Wir sind zuerst einmal «Alte» (Markenzeichen meiner Blogbeiträge), die durchaus noch etwas zur Gesellschaft beitragen. Wir haben zwar nicht mehr das Wissen der «jungen Wilden», aber viel Erfahrung, Weisheit, Leidenschaft, Empathie, Respekt und Ausdauer. Unsere Karriere ist gemacht, wir dürfen entspannt in die zweite Reihe treten. Wir lassen uns immer noch begeistern und sind auch gerne bereit den Jungen, auf Augenhöhe, ohne Mahnfinger und Besserwisserei, mit Rat und Tat beizustehen. Speziell in der gegenwärtigen Krise.

Jungbleiben und Altwerden
Gefreut habe ich mich deshalb über das Interview von Urs Bühler, in der NZZ vom 30.Dezember 2020 mit Peter Schneider (63) und Andrea Schafroth (53) über das Alter. Der in Zürich lebende Psychoanalytiker Peter Schneider, 1957 in Deutschland geboren, ist bekannt als Kolumnist, etwa von Radio SRF 3 und «Sonntags-Zeitung», er wirkt als Privatdozent für klinische Psychologie an der Universität Zürich. Die zehn Jahre jüngere und gebürtige Bielerin Andrea Schafroth, heute Mitinhaberin einer Zürcher Agentur für städtebauliche Prozesse, war nach einem Studium in Spanisch und Germanistik lange als Journalistin tätig. Unter dem Titel «Jungbleiben ist auch keine Lösung» verhandeln die beiden in einem nachdenklich-vergnüglichen Dialog über das Alter und das Älterwerden, laut Untertitel «für alle Ü’s und U’s»: Das 209-seitige Buch ist soeben im Zytglogge-Verlag (Basel) erschienen.

Thomas Schütte (67) deutscher Bildhauer und Zeichner: Zero.eu 2018, Galerie Tucci Russo, Turin – IT

«Alte» als Begriff schafft Klarheit
Schneider ist der Meinung, von «Alten» zu sprechen, ist doch nicht diskriminierend. Andrea Schafroth findet ebenfalls nichts abwertendes in der Bezeichnung «Alte» gegenüber Senioren. Ihre Kinder nennen alle Menschen, die über 40 sind und sich aus ihrer Sicht vergreist verhalten oder äussern, «Boomer». Alt wird man, ob man will oder nicht. Man sollte das weder als Massaker darstellen, noch in einem Weichspülprogramm verklären, noch es zelebrieren. Es hilft sicher, sich eine gewisse Heiterkeit zu bewahren und weiterhin offen und neugierig zu sein. Im Leben zu bleiben, zumindest beobachtend, ist bestimmt kein schlechtes Rezept. Peter Schneider kennt viele, die wie sein Vater ihre altersbedingten Einschränkungen hinnehmen und Alternativen finden. Altersweisheit kann auch heissen, zu sagen: «Für diesen Scheiss bin ich zu alt.» So vieles wird uns als Fortschritt verkauft, was keiner ist, etwa die Self-Scanning-Kassen.

Wertschätzung der «Alten»
Auf die Frage nach einem Moment, an dem einem das Bewusstsein fürs Älterwerden einholte, erinnerte sich Schafroth an die Zeit, als ihr Vater starb und im Jahr darauf eine gute Freundin. Nebst der Trauer war da auch die radikale Veränderung der Perspektive – ein Schock. Man ist derart aufs Vorwärtskommen programmiert im Leben, in der Ausbildung, im Beruf, in der Familienplanung. Und plötzlich stellt man fest, dass unsere Zukunft in Wirklichkeit das Ende des Lebens ist. Dieser Perspektivenwechsel hat aber auch etwas Befreiendes. Wenn unsere Gesellschaft verlernt hat, die Alten wertzuschätzen hat dies ihrer Meinung nach auch damit zu tun, dass altersbedingte Vorteile wie Weisheit wohl nicht mehr so sehr interessieren in einem Umfeld, in dem man schnell sein, Leistung bringen und online tickern muss. Nur schon die ganze Technologie ist sicher nicht sehr altersfreundlich. Aber vielleicht haben wir uns diese Wertschätzung schon immer einfach eingebildet.

Stigmatisierung von Altersgruppen
Mit Ihrem letzten gemeinsamen Buch, «Cool down. Wider den Erziehungswahn», wandten sich Schneider und Schafroth 2010 gegen das Gebot, Kindern ständig Grenzen zu setzen. Dasselbe orten sie in einer Tendenz zur Massregelung im Umgang mit alten Menschen (Stichwort: Politiker und Pandemiemassnahmen). Fast alle, die sich zum Thema Alter äussern, sind erfüllt von fixen Vorstellungen und liefern entsprechende Tipps zur Bewältigung des Altwerdens bis hin zum Sterben in Würde. Das hat etwas unglaublich Beengendes und äussert sich auch in der Tendenz, Gleichaltrige zusammen unterzubringen: Die Kleinen steckt man zusammen in die Krippe, die Alten in Heime, findet Schneider. Je länger wir uns mit dem Thema beschäftigten bemerkt Schafroth, desto mehr staunten wir über die Parallelitäten. Das beginnt schon beim Billettkauf im Skigebiet, da gibt es reduzierte Preise für Kinder und für die Alten: Beide werden als Gruppe wahrgenommen. Schneider denkt auch an die Gestaltung von Altersheimen, als Aufbewahrungsort für die Noch-nicht-Toten. Traurig ist nur schon, dass man da mit fremden Leuten zusammengebracht wird, mit denen man nun zu tun haben soll, nur weil diese auch alt sind.

Vorteile des Älterwerdens
Es gibt sie, die Vorteile mit fortschreitendem Alter. Man wird zum Beispiel in manchen Lebensbereichen entspannter, lässt sich nicht mehr von Alltäglichkeiten ins Bockshorn jagen. Aber es wird natürlich nicht alles besser, man wird nicht einfach alt, weise und glücklich. Es kommt sicher stark auf den Gesundheitszustand an. Und selbst da hängt es auch von den Verhältnissen ab, in denen man alt werden kann. (Dazu ein Bericht von Anja Jardine, NZZ vom 9. Januar 2021). Beim Thema Überalterung entdeckt man auch stark diskriminierende Tendenzen, mit der gegenwärtigen Corona-Pandemie kommt auch noch das Stichwort «Übersterblichkeit» hinzu und stellt das Verhältnis der Generationen auf die Probe: Manche klagen, die Jungen verpassten ihr Leben, da sie sich mit der Grosselterngeneration solidarisch zeigen und sie schützen müssten. Diesen Übertreibungen widerspreche ich, denn kompetente «Alte», welche sich über aktuelle Themen auf dem laufenden halten, sich weiterbilden und den Kontakt mit Jungen suchen, sind geschätzte Mitglieder unserer Gesellschaft.

Krisenerprobte und kompetente «Alte»
«kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation bewusst sind und sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. Wir «Alten», Frauen und Männer, im Team auf Augenhöhe mit den «jungen Wilden», stellen unsere Erfahrung mit Leidenschaft zur Verfügung. Bitte bringen Sie sich ein und registrieren Sie Ihre Kompetenz kostenlos hier. Wir freuen uns auch über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch, oder hinterlassen Sie Ihren Kommentar weiter unten. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
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