Blog, Industrie 4.0

#233 – Technologische «Alte»

Alt wird man, jung kann man bleiben
Das biographische Alter misst die Zeit, es ist die geläufige zeitliche Altersangabe, die sich nach dem Geburtsdatum errechnet. Das biologische Alter eines Menschen stimmt in den seltensten Fällen mit seinem chronologischen Alter überein. Wie alt die Körperzellen eines Menschen sind, hängt nicht nur von der Anzahl Jahre seit seiner Geburt ab, sondern wird ebenso bestimmt von seiner genetischen Beschaffenheit, von seinem Lebensstil oder seinen körperlichen Aktivitäten. Wurde das Gehirn lebenslang durch Lesen, Neugierde oder Weiterbildung trainiert, sind dem (Mit-)Denken im Alter keine Schranken gesetzt. Leopold Federmair (64), Schriftsteller und Übersetzer, lebt in Japan und schreibt in seinem Gastkommentar, NZZ vom 9.August 2021, mit dem Titel «Alt aussehen – einige Relativierungen in Sachen Unvermeidlichkeit»: «Mit dem Alter wächst die Neigung, dem rasenden Ablauf der Dinge Nostalgie entgegenzusetzen. Gegen die Lektion der Vergänglichkeit hilft, zwischen Idealen und Tatsachenzwängen zugleich alt und jung zu sein, in immer neuer Mischung.» Dabei geht es ihm nicht (ausschliesslich) um das Aussehen, wenn er in den Spiegel schaut, dort sehen wir nur was wir sehen wollen. Und vor allem halten wir uns für jünger, als wir wirklich sind, oft für viel jünger. Übertreibung ist meine einzige Realität, pflegte Diana Vreeland (1903-1989), die französisch-amerikanische Verlegerin von Modezeitschriften, zu sagen. Federmair findet, man muss sich nicht gegen das Altwerden, dieses Verrosten von Körper und Geist, wehren. Einerseits kommt es im Lauf des Alterns unweigerlich zu Anpassungsprozessen, andererseits bietet ein Schatz unterschiedlicher Erfahrungen, die man gemacht hat, die Möglichkeit, das Vorläufige und Beschränkte des Gegebenen zu erkennen und es an Alternativen zu messen.

Thomas Schütte (67), United Enemies, A Play in Ten Scenes 1994, MOMA

Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft
Diese Alternativen müssen nicht in der Zukunft liegen, sie können auch in der Vergangenheit enthalten und bereits da gewesen sein. Federmairs Schlussfolgerung: «Es hat sich alles verändert, vieles zum Besseren, anderes zum Schlechteren. Und wir können und sollten immer noch versuchen, das Verhältnis zwischen schlecht und gut zugunsten des Guten zu beeinflussen. Das könnte im Einvernehmen geschehen zwischen den Alten, die Besseres von früher kennen, und den Jungen, die frei von Erinnerungen in eine vielleicht nicht ideale, aber bessere Zukunft – im Einklang mit der Natur, nicht gegen sie – vorausdenken.» Er erinnert an den französischen Philosoph Michel Serres (1930-2019), der glaubte als Achtzigjähriger, für die Jugend eine Lanze brechen zu müssen und zwei Jahre vor seinem Tod einen letzten Essay veröffentlichte, in dem er darlegte, inwiefern früher alles schlechter war und nicht besser. Er beschreibt, wie viel von der Mühsal und den Beschränktheiten des menschlichen Lebens verschwand, durch technologische Entwicklungen, die auf wirtschaftlichem Reichtum fussten. Digitale Technologien können uns Arbeiten abnehmen und mehr Freizeit verschaffen, aber letztlich ist das Gegenteil der Fall, das Leben wird in der digitalen Welt immer stressiger. Unsere Existenz ist unsicherer geworden, nicht sicherer.

Vom richtigen Umgang mit der Digitalisierung
Hans Magnus Enzensberger (91), deutscher Dichter und Schriftsteller, forderte 2014 in der FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung auf, zum Widerstand gegen die digitale Welt in ihrer Gesamtheit, auf die Vernetzung und die daraus resultierenden Möglichkeiten der Überwachung, Kontrolle und Steuerung, die unablässig realisiert werden, vor allem auf kommerzieller, aber auch auf politischer Ebene. Die technologischen Entwicklungen kann man jedoch nicht rückgängig machen. Man muss mit ihnen umgehen, sollte aber nicht zulassen, dass sie restlos überhandnehmen und uns kontrollieren, statt dass wir sie beherrschen. Wir «Alten» haben es in der Hand, dank unserer analogen Erfahrung, die Digitalisierung gelassen anzugehen. «Nur weil etwas digital ist, ist es noch lange nicht modern.» sagt die Technik-Historikerin Lorena Jaume-Palasí über die Tücken der künstlichen Intelligenz im Interview mit Ruth Fulterer, NZZ vom 11. August 2021. Sie ist der Auffassung, dass wir uns zuallererst von der Vorstellung verabschieden sollten, dass auf der einen Seite der Mensch steht und auf der anderen Seite die Technologie. Wir Menschen sind technologische Tiere. Wir entwickeln Apparate, und die sind ein Stück menschlicher Kultur. Sie sind nicht selbst intelligent, sondern zeigen, dass hinter ihnen etwas Intelligentes steckt: nämlich wir. Dass wir mit neuen Technologien konfrontiert sind, die die Welt verändern, ist nicht neu. Der heutige Diskurs ähnelt jenem, der um 1900 stattgefunden hat. Damals waren es die Ingenieure, die glaubten, dass ihre Erfindungen alles verändern würden.

«kompetenz60plus.ch»
Mit unserer Erfahrung und Engagement aus der analogen Welt sind wir «Alten» gerüstet, im Team zusammen mit dem digitalen Wissen der «jungen Wilden», Prioritäten und Ideen mit Engagement und auf Augenhöhe in Ergebnisse umzusetzen. «kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation bewusst sind und sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. Bitte bringen Sie sich ein und registrieren Sie Ihre Kompetenz kostenlos hier. Wir freuen uns auch über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch, oder hinterlassen Sie Ihren Kommentar weiter unten. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


Ein Projekt «von uns. für uns.»
Web: kompetenz60plus.ch I Mail: werner@kompetenz60plus.ch I
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