Blog, Industrie 4.0

Erfahrungsschatz als Sondermüll

NZZ, «die Alte»
Dass ich die NZZ, digital ohne unnötige technische Hürden und Serverpannen, auf Papier umständlich mit halben Seiten und lästigen Werbebeilagen, nicht einfach «geniessen» kann stört mich. Guten Journalismus vermisse ich in der Bereitstellung von, nach persönlichem Geschmack «ausgeschmückten», Agenturmeldungen, politisch beeinflusster Berichterstattung und den lästigen Wiederholungen gewisser Beiträge an verschiedener Stelle über mehrere Tage. Irgendwie ist die NZZ immer noch nicht in der Gegenwart angekommen. Die digitale Abbildung einer Papierzeitung ist sinnvoll für das Archiv, aktuelle Information muss jedoch flexibler daherkommen. Im Zusammenhang mit dem 240. Geburtstag der NZZ in diesem Monat haben Martin Beglinger und Marc Tribelhorn mit dem profilierten Journalisten und Buchautor Gabor Steingart in Berlin gesprochen. Dieser plädiert für mehr Mitsprache der Leser und mehr Unabhängigkeit von der Werbewirtschaft.

Vogelschwarm im Zeitraffer, Bild: Ornitography #62 des katalanischen Künstlers Xavi Bou

Medien Startup
Unter dem Titel «Ich will, dass wir Ungläubige sind!» – Gabor Steingart über das Versagen des Journalismus und dessen Zukunft, erschien der Beitrag in der NZZ vom 11.01.2020. Der 57-jährige Steingart war 20 Jahre lang beim «Spiegel», später Chefredaktor und Herausgeber des «Handelsblattes» und gehört zu den profilierten Stimmen im deutschen Journalismus. Im Juni 2018 gründete er sein Startup Media Pioneer, «100 Prozent Journalismus, keine Märchen». Jeden Morgen, ausser Sonntags, verschickt er seine so elegant wie scharfsinnig formulierte morgendliche Weltschau an rund 140 000 Leserinnen und Leser – vorläufig kostenlos. Sein gleichnamiger Podcast erreicht pro Woche fast 600 000 Hörer.

Erfahrungsschatz macht blind
Die NZZ liest er als Stammleser in der Regel digital. 240 Jahre sei eine grosse Historie, aber keine Garantie fürs Überleben. Aus der Tradition ergibt sich heute gar nichts. Manchmal ist sie auch nur ein Problem und Erfahrungsschatz ein anderes Wort für Sondermüll. Der vermeintliche Erfahrungsschatz macht viele blind für das Notwendige, nicht nur in Bezug auf Medien. Wenn jemand sagt, er lese gern auf Papier, ist das keine Meinungsäusserung, sondern eine Altersangabe. Nostalgie ist zwar ein netter menschlicher Zug, aber kein Geschäftsmodell. Das grosse Erbe belastet die Medienbranche. Die flinken Neueinsteiger aus den USA haben sich freigemacht von all den Dingen wie Papier, Logistikketten, Haptik. Wir müssen uns erst davon locker machen.

Neue Konzepte im Journalismus
Als Journalist macht sich Steingart Gedanken zur Entwicklung neuer Konzepte. So wird ab dem Frühjahr 2020 die «Pioneer One» im Berliner Regierungsviertel auf der Spree fahren. Das in Bau befindliche Schiff wird Sitz der Redaktion und auch den Leserinnen und Lesern zugänglich sein. Liveübertragungen und Veranstaltungsformate mit bis zu 100 Teilnehmern sind geplant. Gemeinsam mit der LUX Werft in Niederkassel realisieren die Journalisten und Medienexperten den Bau des Schiffs. Projektleiterin für das Redaktionsschiff ist die gebürtige Amerikanerin Chelsea Spieker. Sie betreut das Projekt seit den ersten Planungsskizzen im August 2018 bis zum Stapellauf im Frühjahr 2020. Danach wird sie den Schiffsbetrieb managen. Die technischen Spezifikationen sind für den täglichen Einsatz auf der Spree und allen Binnengewässern der Zone 4 ausgelegt. Das Schiff ist 40 Meter lang, sieben Meter breit und verfügt über 200 Quadratmeter Fläche. Der Antrieb ist elektrisch, emissionsarm und lautlos.

Redaktionsschiff «Pioneer One», Bild: Media Pioneer

Disruptive Startups
Startups agieren disruptiv, kümmern sich wenig um Tradition. Zuerst muss ein attraktives Angebot entstehen, woraus sich ein Geschäftsmodell entwickeln kann. Viele Jungfirmen scheitern dabei, der Gedanke ans Scheitern darf jedoch nicht alles bestimmen. Die Finanzierung muss hundert Prozent Unabhängigkeit gewährleisten, Investoren von Media Pioneer bilden eine Gemeinschaft kluger Köpfe, bestehend aus dem Gründerteam, der Axel Springer SE und bald auch den Leserinnen und Lesern. Ohne Werbeeinnahmen verpflichten sie sich wie fast alle anderen Branchen zu einem «Reinheitsgebot». Den teuren Kaffee bei Starbucks bezahlen wir auch, und er ist nicht von Bayer gesponsert. Die Leser der NZZ oder des «Spiegels» sind keine armen Schlucker. Es kann doch nicht sein, dass wichtige ökonomische Akteure über Wohl und Wehe einer Redaktion entscheiden, sagt Steingart.

Kompetente «Alte» gesucht
Zwar fehlt uns vielleicht das Wissen zum aktuellen Stand der Technik, doch dank unserer (Lebens-)Erfahrung sollten wir uns aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen. Auf Augenhöhe mit den Jungen und einer gewissen Bescheidenheit, ohne Besserwisserei. Bitte bringen Sie sich ein, wir freuen uns über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


Ein Projekt «von uns. für uns.»
Web: kompetenz60plus.ch I Mail: werner@kompetenz60plus.ch I
Linkedin: kompetenz60plus.ch | facebook: wernerkruegger