Weiterarbeiten trotz Automatisierung
Wie oft kritisieren wir «Alten» die junge Generation für deren vermeintliches Nichtstun. Ohne gewisse Werte zu hinterfragen, wurden wir im Glauben sozialisiert, dass wir es dank harter Arbeit weit bringen können. Wir haben eine Kultur aufgebaut, die das Falsche verlangt, haben falsche Anreize geschaffen. Moralischer wäre es, statt harte Arbeit zu verlangen, etwas Sinnvolles zu schaffen für eine Welt voller Bedeutung. Macht uns harte Arbeit wirklich zu einem guten Menschen? Azim Shariff, Psychologieprofessor an der University of British Columbia, forscht zum Thema Arbeitsmoral. Seinen Vortrag vom Februar 2023 auf TED@DestinationCanada beginnt er mit einer Frage:
Stellen Sie sich für eine Sekunde vor, dass sie ihren Job wegen einer fortschrittlichen Software verlieren, die ihre Arbeit kostenlos in gleicher Qualität erledigen könnte. Aber zufällig haben sie noch einen garantierten Arbeitsvertrag über drei Jahre. Daher bietet Ihnen die Firma zwei Möglichkeiten an. Entweder erhalten sie weiterhin Ihr vertragliches Gehalt, bleiben aber zu Hause während die Software Ihre Arbeit erledigt. Oder Sie können für das gleiche Geld weitermachen und die Arbeit erledigen, die hätte automatisiert werden können. Was würden Sie tun?
Auch wenn die meisten von uns das Geld nehmen und zuhause bleiben würden, gibt es immer einige, die sich dafür entscheiden, weiterzuarbeiten. Was sagt dies über deren Charakter aus? Sind diejenigen die weiter arbeiten weniger kompetent, oder sogar die Trottel unter uns
Arbeit, die Moralisierung von Anstrengung
Die Studierenden von Azim Shariff sahen im Beispiel aber auch wärmere und moralischere Menschen, auf die man vertrauen kann, dass sie das Richtige tun. Auch wenn durch das Weitermachen kein Mehrwert geschaffen wird, sahen sie darin etwas Tugendhaftes, die blosse Anstrengung als moralisch. Azim Shariff hat in letzter Zeit zusammen mit seinen Mitarbeitenden an der «Arbeit» selbst geforscht und dabei festgestellt, dass Menschen der Anstrengung einen moralischen Wert beimessen, unabhängig davon, was diese Anstrengung hervorbringt. In einer hypothetischen Studie produzieren zwei Hersteller die gleiche Anzahl Geräte, in der gleichen Zeit und auf dem gleichen Qualitätsniveau. Aber für einen von ihnen ist es viel aufwändiger, dies zu tun. Die Leute sehen diesen fleissigeren Geräte-Hersteller als weniger kompetent, aber wiederum moralischer. Und auf die Frager, welchen der beiden man als Kooperationspartner auswählen müsste, würde derjenige gewählt, der Schwierigkeiten hat. Wir nennen diese Anstrengung «Moralisierung», denn der fleissigere Mensch galt als moralischer und deshalb als besserer Kooperationspartner, obwohl seine Leistung keinen Mehrwert darstellt. Auf die Frage, welche Eigenschaften zu einem guten Charakter beitragen, war die Antwort Grosszügigkeit und harte Arbeit.

Menschen, die hart arbeiten, sind gut
Menschen die bereit sind zu zeigen, dass sie selbst in bedeutungslosen, ja sogar in besonders sinnlosen Aufgaben bereit sind, sich anzustrengen, sind diejenigen die uns eher helfen können und die wir in unserer Nähe haben möchten. Wir alle versuchen auf dem Markt die besten Mitarbeitenden zu finden. Und wir versuchen anderen zu zeigen, dass auch wir diese Person sind. Die Evolutionspsychologen nennen das Partnerwahl. Wir alle versuchen, uns mit Menschen zu umgeben, die uns im Notfall helfen und die Dinge fair teilen würden. Qualitäten wie Grosszügigkeit oder Selbstbeherrschung oder harte Arbeit, werden als moralische Eigenschaften angesehen, die uns zu besseren Kooperationspartnern macht.
Arbeitssucht als Ehrenzeichen
Auf die gesellschaftliche Ebene übertragen kann dies aber sehr problematisch werden. Unsere Intuition, dass Anstrengung um ihrer selbst willen gut ist, unabhängig davon, was diese produziert, hat ein Arbeitsumfeld mit perversen Anreizen geschaffen. Wir haben anfangen, der Aktivität einen höheren Wert beizumessen als der Produktivität. Wenn wir uns mehr darum kümmern, ob jemand hart arbeitet statt um das, was diese Arbeit erreichen sollte, kann dies mit sehr hohen, auch menschlichen Kosten verbunden sein. Arbeitssucht ist eine Möglichkeit, unserem Umfeld zu versichern, dass wir ein guter Mensch sind und reden uns dies auch noch selbst ein. Der Anthropologe David Graeber (1961-2020) fragte sich deshalb, wie der Kapitalismus so viele der, wie er es unverblümt nannte, Bullshit-Jobs aufrechterhalten konnte. Das sind Jobs, bei denen selbst die Leute, welche die Arbeit verrichten, diese für sinnlos halten und damit nichts von gesellschaftlichem Wert erreichen. (Siehe auch Blog #318 – Arbeit an der Produktivität vom 15. Mai 2023: https://kompetenz60plus.ch/318-arbeit-an-der-produktivitaet ). Weshalb das aber nie angefochten wurde, ortet Azim Shariff im «Workismus», gemäss dem amerikanische Journalist und Podcaster Derek Thompson (37).
Workismus dient der Identifizierung
Beim Workismus geht es darum, dass unser Job nicht nur die Quelle eines Gehaltsschecks ist, sondern die Quelle unserer Identität und ein Weg zur Selbstverwirklichung. Um ein besserer Kooperationspartner als der nächste zu sein, genügt es nicht mehr nur hart zu arbeiten, sondern noch härter zu arbeiten. Und das kann zu diesem Wettrüsten des Arbeitsismus führen. Harte Arbeit kann äusserst sinnvoll sein, wenn sie einem Zweck dient. Harte Arbeit baute die Zivilisation auf. Leider verwenden wir oft zu viel Mühe darauf, nichts aufzubauen, ausser unseren eigenen moralischer Ruf. Um andere Menschen einfach davon zu überzeugen, dass wir hart Arbeitende sind. Und wie viel von dem, was wir an anderen bewundern, ist nur Anstrengungsporno? Einer von Azim Shariff’s Doktoranden stellte fest, wie der Professor zu jeder Tageszeit E-Mails verschickte, 1 Uhr morgens, 2 Uhr morgens, 3 Uhr morgens. Worauf er sich eine App besorgte, die seine Antworten so anordnete, dass sie um ein oder zwei Uhr morgens bei Shariff eintrafen und so den Eindruck erweckten, dass auch er rund um die Uhr arbeite. Doch es geht ja nicht um die Zurschaustellung der Arbeit, sondern darum was wir tatsächlich produzieren.
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