Blog, Industrie 4.0

#274 – «Alte» gefangen im Beruf

Schuster, bleib bei deinem Leisten!
Unsere Karriere ist Geschichte, wir blicken auf eine mehr oder weniger erfolgreiche Zeit im täglichen «Hamsterrad» zurück. Weshalb also nicht etwas Neues ausprobieren, etwas was uns Spass macht und wo wir dank unserer Erfahrung einen positiven Beitrag leisten können? Die Sorge um den Fachkräftemangel ist hausgemacht schrieb ich kürzlich in meinem Blog. Die Kader von schweizer KMU kämpfen vor allem mit der Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal. Bleibt die Frage nach den Gründen, weshalb nicht mehr «Alte» und Quereinsteiger zur Überbrückung dieser Verknappung beitragen sollen. Liegt es etwa am dualen Bildungssystem, das uns früh, im noch jungen Leben zu Entscheiden zwingt – Lehre oder Studium – oder liegt es an der schweizerischen Bescheidenheit: Schuster, bleib bei deinem Leisten!

Die berufliche Grundbildung schliesst in der Schweiz an die obligatorische Schule oder einer gleichwertigen Qualifikation an. Sie ermöglicht den Jugendlichen einen Einstieg in die Arbeitswelt und sorgt so zugleich für den Nachwuchs an qualifizierten Fachkräften. Sie ist arbeitsmarktbezogen und Teil des schweizerischen Berufsbildungssystems.

So lautet eine Definition im Internet. Quereinsteiger oder Pensionierte die sich bewerben, haben es trotz Fachkräftemangel schwer (zu alt, falsche Qualifikation). Da braucht es mehr Flexibilität auf beiden Seiten, unter den Arbeitgebenden sowie Arbeitnehmenden.

A-Z 76 Personal Uniforms 2003-2013, Andrea Zittel (57) USA, Art Unlimited – Art Basel 2022, Foto: WKR

Fragliche «Durchlässigkeit»
Der Bericht des gelernten Kaufmanns Samuel Tanner in der NZZ vom 11.Juni 2022 mit dem Titel: «Das Ende des KV (wie wir es kennen)» befasst sich mit dem Thema der Berufslehre. Die Schweiz wird immer akademischer stellt Tanner fest und beschreibt aus seiner Erfahrung die einst beliebteste (Bank-) Lehre des Landes. Er sieht die Schweiz aufgeteilt in zwei Bildungslager: das akademische und das duale. Es gibt Eltern, die ihre Kinder lieber in eine Lehre als ans Gymnasium schicken, weil ihnen die Lehre näher ist. Auch meine Eltern waren damals dieser Auffassung, obwohl mich mein Primarlehrer gerne im Gymnasium gesehen hätte. Und so musste ich erfahren, wie der Lehrabschluss zwar mit einem eidgenössischen Fähigkeitsausweis gewürdigt wird, aber um Anerkennung in Wirtschaft und Gesellschaft zu finden muss man sich schnellstmöglich weiterbilden, möglichst mit Masterabschluss. In der (dualen) Bildungssprache nennt man dies «Durchlässigkeit», auch wenn es teilweise recht grosse Hürden zu überwinden galt.

Defizite bei der Allgemeinbildung
Die Berufslehre wurde immer auch instrumentalisiert: von der Politik, die primär daran interessiert ist, dass die Arbeitslosigkeit tief ist. Von der Wirtschaft, die primär daran interessiert ist, gute und eingespurte Fachkräfte rekrutieren zu können. Jedes Jahr und mit jedem Innovationsschub entstehen neue Berufsbilder und Abschlüsse. Wem drei oder vier Jahre Ausbildung zu viel sind, findet nach der Vorlehre, dem Brückenangebot, dem Praktikum oder einem Berufsattest den Zugang zum Arbeitsmarkt. Ganz allgemein rückt die Lehre vermehrt von der Schule weg und fokussiert stark auf aktuell gefragte Tätigkeitsprofile. Sie wird damit für gute Schüler:innen weniger attraktiv. Das Gymnasium ist für diese der direktere Weg, die Lehre ist ein Umweg. Vielleicht sind direkte Wege zwar gut für den Lebenslauf, Umwege aber besser für die Biografie. In meinem Fall brachten mich die Umwege buchstäblich weiter herum. Nach meinem (schweizer) Bachelor folgte ein Nachdiplomstudium in England und schlussendlich das Masterdiplom in den USA mit anschliessender Professur. Das Defizit bei der Allgemeinbildung (ohne Matura), konnte ich dank viel Eigeninitiative und gutem Bildungsumfeld etwas kompensieren. Auch wenn ich seither in meinem «gelernten Beruf» nur noch am Rande tätig bin, habe ich die handwerkliche Seite der (analogen) Lehre nie bereut, denn sie hat mich unter Anderem befähigt, den Weg in die Digitalisierung aktiv mitzugestalten.

A-Z 76 Personal Uniforms 2003-2013, Andrea Zittel (57) USA, Art Unlimited, Art Basel 2022 Foto: WKR

Dualer Bildungsweg als Lebenslüge
Samuel Tanner beschreibt, wie mit der Reform der KV-Lehre ab nächstem Jahr im klassischen KV, nicht mehr Fächer wie Mathematik und Deutsch unterrichtet werden, sondern die sogenannten Handlungskompetenzen. Die Ausbildung rückt von der Schule weg und näher an den Beruf. Das «Upgrade» zur Berufsmatura, wo weiterhin nach klassischen Fächern unterrichtet wird, gestaltet sich dadurch voraussichtlich schwieriger. Je weiter die Globalisierung voranschreitet, je digitaler unsere Arbeitsweise und je internationaler ein Chef ist, desto kleiner ist das Verständnis für die Lehre. In der Politik wird die duale Bildung zwar immer noch stark verteidigt. Inzwischen wird sie aber fast eher verklärt. In den vergangenen Jahren haben Leute wie der (studierte) Ökonom Rudolf Strahm immer wieder gegen die «Akademisierungsfalle» angeschrieben. Dennoch ist die Akademisierung eingetreten. In der Schweiz hatten noch nie so viele Menschen einen Hochschulabschluss wie im Jahr 2020, nach vorläufigem Ende der Statistik, waren dies 1,4 Millionen. Tausende von «Lehrstellen» können nicht besetzt werden, trotz unzähliger Kampagnen, welche die Berufslehre als «coole» Sache darstellen. All diese Bestrebungen dokumentieren jedoch vor allem die Mühe mit dem Modell Berufslehre. Tanner glaubt, dass akademische Titel immer wichtiger werden, je globalisierter die Welt (und damit die Schweiz) wird. Unsere Gesellschaft verakademisiert, bei gleichzeitiger Selbstversicherung darüber, dass die akademische und die duale Schweiz gleichberechtigt seien. Es ist eine unserer Lebenslügen.

«kompetenz60plus.ch»
Mit unserer Erfahrung aus der analogen, zusammen mit Erkenntnissen aus der digitalen Welt, sind wir «Alten» gerne bereit, diese mit KMU’s oder im Team mit jungen Forschenden und Wissenschaftern auf Augenhöhe zu teilen. Suchen Sie einen Mentor, eine Mentorin oder Coach, «kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. Bitte bringen Sie sich ein und registrieren Sie Ihre Kompetenz kostenlos hier. Wir freuen uns auch über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch, oder hinterlassen Sie Ihren Kommentar weiter unten. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


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