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#165 – Frühling in Quarantäne

Es sterben nicht nur alte und kranke Patienten
Wir «Alten» müssen auf staatliche Anordnung aktuell geschützt und sogar unter Quarantäne gestellt werden. Wir sind nicht nur gefährdet, sondern auch eine Gefahr. Deutsche Ärzte äussern sich im Zusammenhang mit der notwendigen Triage in den Spitälern zur Eugenik. Mein Freund im Berner Oberland schreibt mir wie er von seiner Gemeinde und der Kirche einen Brief erhielt mit der Aufforderung sich doch bitte nicht mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Dies obwohl er vor einem guten halben Jahr noch auf einem Viertausender gewesen und schon zu Ostern bei seinem Saisonziel von 35 Skitouren angelangt ist. Mit guter Lebensqualität ein hohes, selbstbestimmtes Alter zu erreichen, ist ein hohes Gut, für das wir alle, auch wir «Alten», Milliarden ins Schweizer Gesundheitswesen investiert haben. Diese positiven Errungenschaften unserer Gesellschaft sind nun plötzlich nichts mehr wert, sondern nur noch eine Last? In seinem Gastkommentar äussert sich Peter Strasser (70), Dozent an der Karl-Franzens-Universität Graz, NZZ vom 08.04.2020 zur Begriffszündelei im Seuchenfall – mit der Corona-Krise steht auch der Generationenvertrag auf dem Prüfstand. Die Knappheit der Mittel im medizinischen Kampf gegen Corona kann Ärzte vor schwere Entscheidungen stellen: Wer soll und darf überleben? Da betagte ältere Patienten hier den Kürzeren ziehen dürften, geht die Rede vom «Senizid» um. Das ist nicht ungefährlich.

Wem ist zu trauen?
Der Beitrag von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Paul Robert Vogt: «COVID-19 – eine Zwischenbilanz oder eine Analyse der Moral, der medizinischen Fakten, sowie der aktuellen und zukünftigen politischen Entscheidungen», Mittelländische Zeitung, 7. April 2020 befasst sich unter Anderem mit Informationstendenzen. Alter ist relativ: Für das «höchste Amt der Welt» ist der eine US-Präsidentschafts-Kandidat heute 73 und sein Opponent 77 Jahre alt. Das Alter der in der Schweiz Verstorbenen liegt zwischen 32 und 100 Jahren. Zudem gibt es einige Studien und Berichte, welche zeigen, dass auch Kinder an COVID-19 verstorben sind. Angeblich beträgt das durchschnittliche Alter der verstorbenen Patienten 83 Jahre. Gewisse Medien-Artikel und Leser-Kommentare überschreiten bei dieser Diskussion jede Grenze, haben den üblen Geruch der Eugenik und es kommen Erinnerungen an bekannte Zeiten auf. Auch das konstante, dümmliche «Prügeln» anderer Nationen und deren Systeme kann kein Rezept dafür sein, globale Probleme gemeinsam anzugehen. China hat dem Westen bis heute 3.86 Milliarden Masken, 38 Millionen Schutzanzüge, 2.4 Millionen Infrarot-Temperatur-Messgeräte und 16’000 Beatmungsgeräte geliefert. Das Versagen unserer westlichen Länder hat dazu geführt, dass wir buchstäblich am medizinischen Tropf Chinas hängen. Lukas Bärfuss äusserte sich kürzlich wie folgt: «Warum die entsprechenden Fabriken nicht mehr in Biberist stehen. Sondern in Wuhan. Und ob dieses Allokationsproblem vielleicht nicht nur Zellulose betrifft, sondern auch Information, Bildung, Nahrung und Medikamente».

Monte Verità, Ascona TI, Sonne Luft und Freiheit, 1920-er Jahre. Bild: Stiftung Monte Verità / Keystone

Corona-Gehorsam
Sars-CoV-2 ist ein neues, feindseliges Virus, das vor allem bei Hochbetagten, Schwerkranken und Immunsupprimierten zum Tode führt. Im Gastkommentar von Susanne Gaschke, NZZ 11.4.2020 lesen wir zur Strategie: Im März 2016 schrieb Nikolaus von Bomhard, damals Vorstandsvorsitzender des weltgrössten Rückversicherers Munich Re: «Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein entsprechend gefährliches Virus und die ‹richtigen› Umstände zusammentreffen.» Für manche Risiken – das Coronavirus ist gerade das beste Beispiel – stehen nur wenige Informationen zur Verfügung. Deshalb müssen politisch Verantwortliche ihre Entscheidungen in Unsicherheit treffen – mit der Unterstützung von Fachleuten, aber, so Bomhard, auch auf der Basis ihrer eigenen Intuition: «Bauchgefühl ist eine grundlegende Kompetenz und darf durchaus Bestandteil eines professionellen Risikomanagements sein. Der gesunde Menschenverstand ist zu erstaunlichen Leistungen fähig, wenn es um Risikoeinschätzung geht.» Politiker kommunizieren mit einer Mischung aus Mahnen, manchmal auch Drohen und Ermutigen. Diejenigen welche die Stilllegung des gesamten öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens als angemessen und alternativlos hinterfragen, machen sich schnell als «Corona-Leugner» verdächtig. Selbst tendenziell regierungskritische Zeitungen fragen heutzutage, «welche Gesellschaft wir sein wollen: Eine Gesellschaft, die die Alten und Schwachen schützt? Oder eine, in der nur die Stärksten überleben?»

Kontaktsperren-Totalitarismus
Hans-Jürgen Papier, der ehemalige Präsident des Deutschen Bundesverfassungsgerichts, sagt, wenn sich die vielen Einschränkungen des Alltags über längere Zeit hinzögen, sei «die Freiheit in Gefahr». Der Virologe Hendrik Streeck, der die Empirie des Virus erforscht und das Deutsche Robert-Koch-Regierungsinstitut scharf kritisiert, sagt, wir brauchten «nicht auf Dauer extreme Beschränkungen». Es sei schlimm, wenn Menschen sterben würden. «Aber die Frage ist, ob man mit den Massnahmen andere Existenzen gefährdet und dadurch auch Leben aufs Spiel setzt.» Man ist sich meist einig (Herdentrieb), Risikogruppen, das heisst alle über 65-jährigen (gegenwärtiges Pensionierungsalter!), oder 20% der Schweizer Bevölkerung, besonders zu schützen, aber die Jungen und Gesunden wieder ihrer Arbeit und ihren Aktivitäten nachgehen zu lassen. Diese Diskussion findet ohne uns «Alte» statt, obwohl die grosse Mehrheit von uns relativ gesund ist, alt ist nicht gleich ungesund.

Gehirn im Ausnahmezustand
Dazu ein Interview mit Steven Pinker (65), Professor für Psychologie an der Harvard University, NZZ 11. April 2020. Die Pandemie erinnert uns daran, dass wir unsere Ängste von Zeit zu Zeit kalibrieren sollten – nichts kommt, wie wir es gerne hätten oder vorherzusehen meinen. Krankheiten – Seuchen – sind ein Teil des Lebens, seit es Menschen gibt. Wir wissen, dass Parasiten und Krankheitserreger sich rasend verbreiten können. Zugleich haben wir Krankheiten immer wieder erfolgreich bekämpft, so zum Beispiel die Pocken, und wir sollten darauf eigentlich vorbereitet sein. Das Virus hat angegriffen, wir schlagen zurück – mit Hygienemassnahmen, Impfungen, mit Medikamenten. Wir fahren Verluste ein, aber wir werden siegen. Wir wissen nach wie vor nicht besonders viel über Sars-CoV-2. Gefahren, die uns bedrohen, die wir aber nicht gänzlich verstehen, führen zu anhaltenden Angstzuständen. Unser Gehirn ist dann im Ausnahmezustand. Die mächtigste Gefahr im Falle des Coronavirus ist zweifellos die «exponentielle Ausbreitungsverzerrung». Die Anzahl der Ansteckungen verdoppelt sich jeden Tag und verläuft so schnell, dass wir in kürzester Zeit Dutzende Millionen von Ansteckungen weltweit und Hunderttausende von Toten haben könnten – wenn wir nichts dagegen unternehmen.

Das meiste wird sich als falsch herausstellen
Dabei gibt es keine richtige Entscheidung – es geht stets um eine Güterabwägung und um Meinungen aus den verschiedensten Ecken der Politik. Gemäss Pinker sollten wir stets alle Kosten bedenken, die direkten menschlichen und die indirekten ökonomischen. Im vorliegenden Fall könnte die ungebremste Ausbreitung der Pandemie höhere Kosten verursachen als eine ökonomische Depression. Die Frage ist ob wir womöglich in einen Generationenkonflikt Schlittern – die jüngeren Leute bezahlen den ökonomischen Preis, während die älteren von den politischen Massnahmen profitieren? Dazu findet Pinker, dass unsere Gesellschaften zu Recht auf der Annahme beruhen, dass alle Menschen – egal, welcher Hautfarbe, welchen Alters, welchen Geschlechts – über die gleiche Würde verfügen. Aber in Krisensituationen sind wir gezwungen, uns zu fragen, welches Leben wie viel wert ist, damit brechen wir ein Tabu, und das spüren wir. Wir lernen auch aus dieser Krise, wir arbeiten weiter an unserer Ratio, wir entwickeln neue technische Tools. Optimismus meint ja: Wir minimieren die Tragik des menschlichen Lebens. Alle, die kommen, werden davon profitieren. Das meiste, was nun gesagt und geschrieben wird, wird sich als falsch herausstellen.

Monte Verità, Ascona TI, Ausdruckstanz 1920-er Jahre. Bild: Kunsthaus Zürich, Nachlass Suzanne Perrottet

Welche Ausstiegsstrategie?
«Wir brauchen eine kluge Ausstiegsstrategie», Kommentar von Peter A. Fischer, NZZ vom 10.04.2020. Der gegenwärtige Notstand ist geprägt von nationaler und gar regionaler Abschottung, eigenmächtig handelnden Exekutiven, einer enormen Zunahme der zentralstaatlichen Versorgung, von gewerkschaftlichen Interventionen in Firmen und dem Erhalt bestehender Wirtschaftsstrukturen mit öffentlichen Mitteln sowie von drohender Überschuldung. In manchen Spitälern sind die für Corona-Patienten reservierten Stationen fast leer. Ganze Krankenhausabteilungen leisten Kurzarbeit, eingezogenes Militär langweilt sich. So gerechtfertigt das in der Not sein mag, mittelfristig zerstört es die Wurzeln des Schweizer Wohlstands. Der Bund schätzt den Produktionsausfall durch den Teilstillstand der Wirtschaft derzeit auf etwa 25 Prozent, was direkte Kosten von ungefähr 15 Milliarden Franken pro Monat impliziert. Hinter diesen nackten Zahlen stecken Kurzarbeitsanträge für fast ein Drittel aller Erwerbstätigen in der Schweiz. Arbeitgeber und Beschäftigte haben Existenzängste, nicht nur in geschlossenen Coiffeursalons und Restaurants, sondern in weiten Teilen der Firmenlandschaft. Es drohen eine weltweite Wirtschaftskrise und ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit. Wirtschaftlich muss eine kluge Ausstiegsstrategie darauf ausgerichtet sein, möglichst viele Menschen möglichst schnell wieder richtig arbeiten und mehr konsumieren zu lassen.

Notwendige Korrekturen
Die Behörden haben sehr vieles zugesperrt, damit es die Menschen nicht in die Innenstädte zieht und es nirgends zu Menschenansammlungen kommt. Doch halten sich die Konsumenten an die neuen Vorsichtsmassnahmen, sollte es ihnen auch bald wieder erlaubt sein, mit zwei Metern Abstand, regelmässiger Desinfektion und allenfalls dem Nutzen von Gesichtsmasken, Blumen oder Gartenpflanzen zu kaufen, Kleider, Haushalts- oder Elektrogeräte zu erstehen, zum Arzt zur Kontrolle zu gehen und Golf oder Tennis zu spielen. Sogar Restaurantbesuche könnten so gestaltet werden, dass kleine Gruppen unter sich und stärker vor einer Ansteckung geschützt bleiben. Solche Massnahmen dürfen jedoch nicht darauf abzielen, uns «Alte» weiterhin pauschal zu isolieren und zu diskriminieren. Vielmehr müssen Infizierte künftig besser und frühzeitiger durch Tests erfasst, isoliert und ihre engen Kontakte in Quarantäne gesetzt werden. In einer freiheitlichen Gesellschaft sollte dabei weitgehend auf Eigenverantwortung und Vernunft abgestellt werden. Die Behörden dürfen nicht der Versuchung erliegen, im Zweifelsfall immer restriktiv zu entscheiden. Ideen für einen effizienteren Ausstieg sollten genutzt und ausprobiert werden. Erweist es sich als notwendig, sind Korrekturen jederzeit und ohne Gesichtsverlust möglich. Gefragt sind Kreativität, Flexibilität und auch etwas Mut zu unkonventionellen Umsetzungen.

Wir «Alten»
«kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation bewusst sind und sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. «Alte» Frauen und Männer im Team, auf Augenhöhe mit den «jungen Wilden», stellen ihre Erfahrung zur Verfügung. Bitte bringen Sie sich ein, wir freuen uns über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


Ein Projekt «von uns. für uns.»
Web: kompetenz60plus.ch I Mail: werner@kompetenz60plus.ch I
Linkedin: kompetenz60plus.ch | facebook: wernerkruegger

2 thoughts on “#165 – Frühling in Quarantäne”

  1. Ich habe das Gefühl, dass ein Teil der Bevölkerung, inkl. gewisse Politiker, angesichts des Corona-Bombardements in den Medien ihr Gehirn ausgeschaltet haben und bereit sind, ihre Grundrechte aufzugeben. Die Statistiken zeigen, dass weder in der Schweiz noch in Deutschland mehr am Virus gestorben sind als an der normalen Grippe. Vergleiche mit Italien oder Grossbritannien sind absurd. Das britische und irische Gesundheitssystem bricht jedes Jahr in der Grippe-Saison zusammen. Das findet bloss sonst kein Presseecho auf dem Kontinent. Da müssen dann regelmässig jede Nacht Hunderte von Kranken in den Gängen der Spitäler schlafen. Ein Lockdown ändert überhaupt nichts an Personalmangel und einer permanenten Unterfinanzierung der Gesundheitssystems.
    Die Altersdiskriminierung dürfen wir Alten uns selbst zuschreiben. Mit uns wird der Lockdown begründet und die Mehrheit hat sich nicht gewehrt.
    Ich persönlich will nicht besonders geschützt werden und sage das auch jedem ob ers hören will oder nicht.. Ich erlaube weder den Pfadfindern mir das Vergnügen am Shopping zu nehmen, noch der Polizei meine Bewegungsfreiheit einzuschränken und mich an Ausflügen in die jetzt so schön blühende Natur zu hindern. Ich treffe mich weiterhin mit meinen Kindern und Freunden. Es wird höchste zeit, dass die Wirtschaft wieder zum Laufen kommt. Den Schaden tragen die Steuerzahler für mindestens noch 10 Jahre. Fuck Corona!

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