Blog, Industrie 4.0

#284 – Serendipität

Wir unterschätzen das Unerwartete
«Erfolgreiche Führungskräfte klammern sich nicht an Pläne. Sie kultivieren intelligentes Glück». Der Titel im Beitrag von Natalie Gratwohl, NZZ vom 22. August 2022, hat meine Aufmerksamkeit geweckt. Es läuft nichts wie geplant. Für viele Chefs ist dies ein Albtraum. Natalie Gratwohl bezieht sich in ihrem Beitrag auf Christian Busch. Der Experte im Bereich Serendipität erklärt, wie es gelingt, loszulassen und stattdessen das Beste aus dem Unerwarteten zu machen. Dabei hat es mir vor allem der Begriff «Serendipität» angetan. Gemäss Wikipedia verwendete der britische Autor Horace Walpole, 4. Earl of Orford (1717–1797), den Ausdruck erstmals in einem Brief vom 28. Januar 1754, an seinen in Florenz lebenden Freund Horace Mann. Die weltweite Verbreitung, die der Begriff vor allem in wissenschaftlichen Kreisen erhielt, geht allerdings auf den US-amerikanischen Soziologen Robert K. Merton (1910–2003) zurück. Er findet sich erstmals 1945 in seinem Werk «The Travels and Adventures of Serendipity». Serendipität, oder das Serendipitätsprinzip, bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Verwandt, aber nicht identisch ist die weiter gefasste Redewendung vom «glücklichen Zufall».

Serendipität in der Informationswissenschaft
Auch im Bereich der Informationsabrufe können Serendipitätseffekte eine Rolle spielen, wenn beispielsweise beim Surfen im Internet unbeabsichtigt nützliche Informationen entdeckt werden. Bei der Recherche in professionellen Datenbanken und vergleichbaren Informationssystemen kann es zu Serendipitätseffekten kommen. Hier wird die Serendipität zu einem Kennwert der Fähigkeit eines Informationssystems, trotz eines Überangebots an Daten nützliche Informationen zu finden. Serendipität fasziniert mich. Kombiniert mit der Erfahrung, Neugier, Ausdauer und Weisheit von uns «Alten» sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Dabei verleihen wir in gemischten Teams ein Gefühl von Sicherheit für die Validierung von Ideen, auch dank unseren Wertvorstellungen und Kompetenzen.

Paul Klee (1979-1940) Castle in the Sun, 1928, Bild: YouTube

Intelligentes Glück kultivieren
Das Steckenpferd von Christian Busch, Autor von «Connect the Dots: The Art and Science of Creating Good Luck» (2022), ist die Serendipität, schreibt Natalie Gratwohl. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Schon vor Jahren hat der passionierte Netzwerker zwei Dinge festgestellt: dass erfolgreiche und inspirierende Menschen in ihrem Leben Serendipität kultivieren und dass zufällig neue Ideen entstehen, wenn man die richtigen Leute zusammenbringt. Beides faszinierte ihn, und er begann sich zunächst privat und dann auch wissenschaftlich mit dem Thema zu beschäftigen. Bei Innovationen aller Art spielt der glückliche Zufall eine bedeutende Rolle; man denke etwa an Erfindungen wie Penicillin oder die Röntgenstrahlung. Gerade in Krisenzeiten wird offensichtlich, wie Firmenchefs den Mitarbeitenden keine Gewissheiten oder vermeintliche Sicherheit bieten können. Anstatt mit dem Reflex, die Zügel anzuziehen und mehr Kontrolle auszuüben, sollen Firmenchefs lernen, loszulassen und das Beste aus dem Unerwarteten machen. Dies gehe nicht mit einem Kontrollverlust einher, sondern sei im Gegenteil die einzige Möglichkeit, sich von der Illusion der Kontrolle zu befreien, findet Busch.

Förderung einer Kultur des produktiven Konflikts
Es gibt allerdings wenige Firmen, die ein solches Umfeld fördern. In vielen Betrieben herrscht nach wie vor eine wenig inspirierende Unternehmenskultur, was die Kreativität und eigenständiges Handeln hemmt. Gleichzeitig haben Pläne und Ziele einen derart hohen Stellenwert, dass ein geringer Anreiz besteht, bei neuen Erkenntnissen davon abzurücken. Im Papier von Julia Dhar, Sana Rafiq, und Kateryna Gudziak, BCG Boston Consulting Group Henderson Institute vom 25. Juli 2022 beschreiben die Autorinnen Möglichkeiten, eine gesunde Debatte zu fördern um eine Kultur produktiver Meinungsverschiedenheiten zu schaffen. Während ihrer Arbeit stellten sie fest, dass es selbst in Zeiten der Polarisierung und des erbitterten Diskurses in allen Bereichen der Gesellschaft immer schwieriger wird, offene und produktive Meinungsverschiedenheiten am Arbeitsplatz zu führen. Fast 20% der befragten Tech-Mitarbeitenden geben an, dass sie ihre Vorgesetzten überhaupt nicht ansprechen. Meistens entscheiden sich sogar Manager dafür, nicht zu handeln, weil Veränderungen unbequem sind oder weil das Handeln sie in Schwierigkeiten bringen könnte; es ist sicherer, nichts zu tun. Daher ist es für Führungskräfte oft schwierig, die volle, ungeschminkte Wahrheit zu erfahren, und sie treffen im schlimmsten Fall grosse Entscheide, die auf Halbwahrheiten oder unvollständigen Daten basieren. (Wir kennen dies aus der hiesigen Politik.)

Erste Entwürfe müssen nicht perfekt sein
Eine gesunde Debatte verstärkt die Innovation. Und die Unterdrückung alternativer Meinungen schadet dem Engagement und der Mitarbeiterbindung. Busch rät den Unternehmen systematisch aus Fehlern zu lernen, auch von Ideen, aus denen nichts geworden ist. Dabei geht es nicht darum, das Scheitern zu bejubeln, sondern darum, das Lernen aus unerwarteten Situationen zu fördern. In einem solchen Umfeld experimentieren Mitarbeitende öfter und übertragen Ideen in einen anderen Kontext. Wenn Mitarbeitende mit der Philosophie, Serendipität, nichts anfangen können, bietet es sich an, gemischte Teams intelligent zusammenstellen. Meiner Meinung nach gehören auch «Alte» dazu, welche dies bereits erfolgreich praktiziert haben. Als Coaches oder Mentoren bringen sie eine neutrale Aussensicht in die Diskussion, ohne Angst, Misstrauen oder Missgunst. Teams, in denen Jüngere und Ältere zusammenarbeiten, liefern bessere Ergebnisse. Denn ein guter Altersmix sorgt für mehr Qualität, Kreativität und Innovation. Wichtig sind zufällige Begegnungen am Arbeitsplatz, rund um zentrale Bereiche wie Lounges oder lichtgeflutete Pausenzonen. Um ein gutes Umfeld für kreatives Arbeiten zu schaffen, gilt auch die Devise, dass Ideen und erste Entwürfe nicht perfekt sein müssen.

«kompetenz60plus.ch»
Mit unserer Erfahrung aus der analogen, zusammen mit Erkenntnissen aus der digitalen Welt, sind wir «Alten» gerne bereit, diese mit KMU’s oder im Team mit jungen Forschenden und Wissenschaftern auf Augenhöhe zu teilen. «kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. Bitte bringen Sie sich ein und registrieren Sie Ihre Kompetenz kostenlos hier. Wir freuen uns auch über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch, oder hinterlassen Sie Ihren Kommentar weiter unten. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


Ein Projekt «von uns. für uns.»
Web: kompetenz60plus.ch I Mail: werner@kompetenz60plus.ch I
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