Blog, Industrie 4.0

#201 – Mangel an «Öffentlichkeit» in 2021

Unser Gemeinwesen verkümmert
Ohne es zu merken, verändert sich unser Verhalten gegenüber der Gemeinschaft im Lockdown. Was auf dem Papier als ideale Lösung zur Bekämpfung der Pandemie erscheint, hat für die Gesellschaft tiefgreifende Folgen. Dabei denke ich nicht nur an unser Konsumverhalten, sondern an die vielen Einschränkungen in der Kreativität mangels «Öffentlichkeit». «So gefährlich war die Kunst noch selten. Aber der Kultur-Shutdown trifft uns alle», schreibt Roman Bucheli in der NZZ vom 30.Dezember 2020. Für die Einzelnen, die für eine Weile nicht ins Theater, Literaturhaus oder Konzert gehen können, ist das zwar eine schmerzliche, doch immerhin verschmerzbare Sache. Bücher kann man bequem zu Hause lesen, Musik hören ebenfalls. Aus dem Theater gibt’s Streaming-Angebote, und selbst die Museen haben ihre Online-Präsentationen ausgebaut. Einschneidend ist das aber für das Gemeinwesen. Denn eine Gesellschaft ohne öffentlich wirksames und sichtbares Kulturleben verkümmert, weil sie mit einem ihrer wichtigsten Nährböden auch den Schauplatz verliert, wo sie experimentieren, Gedanken vor Publikum erproben und in der Möglichkeitsform reden kann. Sieht man die Menschen auf öffentlichen Plätzen je angeregter diskutieren, als wenn sie gerade aus einem Kino, einem Theater oder einer Chorprobe kommen? Es ist diese Form der Öffentlichkeit, die im Lockdown der Kultur verloren geht. Wie sehr uns der analoge Austausch fehlt, erkennen wir erst, wenn wir hilflos vor unseren Computerkameras herumhampeln und mit zehn, zwanzig und mehr Leuten zum Gespräch verbunden sind. Mehr noch als in der stillen Kammer nehmen wir in diesem Öffentlichkeits-Surrogat jenen Phantomschmerz wahr, der in unseren Gliedern zu pulsieren beginnt, wenn vom Kino bis zum Theater und Museum alles zugesperrt wird. Der Einzelne wird es vielleicht verkraften, die Gesellschaft auf Dauer sicher nicht.

Virtuelles Publikum am Neujahrskonzert 2021 der Wiener Philharmoniker mit Riccardo Muti,  ORF

Mehr Digitalisierung verlangt
Das erste Halbjahr 2021 soll schwierig werden, prognostizieren Virologen und Wissenschafter. Noch fehlt es, als Folge von monatelanger ungenutzter Vorbereitungszeit, vielerorts an Konzepten und Infrastrukturen für eine systematische Impfung der Bevölkerung. Man hat es auch verpasst, trotz hohem Einstandspreis, genügend Impfstoffe zu bestellen. Die Behörden vertrösten uns mittlerweile auf April 2021! Trotz teurer Covid-19-App und hunderten von neuen Mitarbeitenden in der Verwaltung, funktioniert das Contact-Tracing schlecht. Gemäss einem Bericht auf Heise Online vom 4. Januar 2021 sei es in der kalifornischen Metropole Los Angeles unterdessen möglich, einen digitalen Impfnachweis auf sein iPhone hochzuladen. Menschen die in Los Angeles County geimpft worden sind, können neben einer schriftlichen Impfbestätigung auch eine virtuelle Karte in der Apple-Wallet-Anwendung hinterlegen. Die vom Start-up Healthvana entwickelte App erinnert die «Impflinge» daran, ihre zweite Impfdosis zu erhalten. Später soll der Wallet-Nachweis aber auch dazu dienen, seine Impfung «zu verifizieren», etwa gegenüber Fluggesellschaften, Schulen oder Veranstaltern.

2021 scheint alternativlos
Mittlerweile leidet unsere Kreativität wegen der ständigen Sorge vor einer Ansteckung durch das Virus. Auch wenn man es gerne wegdiskutiert, die «Entwicklung» unserer Gesellschaft verlangsamt sich merklich. Es fehlt an «Öffentlichkeit», dem Austausch von Ideen mit Gleichgesinnten. Wir vermissen das stimulierende Umfeld von Gesprächen in der Kaffeepause. Das Akquirieren neuer Aufträge, ohne den persönlichen Kontakt auf Grund annullierter Anlässe, ist herausfordernd. Und doch wird trotz Restriktionen weiter produziert, gebaut und verschickt, einfach mit pandemiebedingt eingeschränktem Kundenservice. In den Schulen (Fernunterricht) und Verwaltungen (Austausch von Daten) entdeckt man langsam die Vorteile der digitalen Hilfsmittel. Die lapidare «Automatisierung» bestehender Abläufe, ohne Visionen und Investitionen für die Zeit nach der Krise, greift jedoch zu kurz. Man ist zu sehr darauf fokussiert, im gewohnten Stil weiterzuarbeiten und verdrängt dabei mögliche Alternativen.

Abgedecktes Gemälde zur Einhaltung des Mindestabstands, Kunstmuseum Basel. Bild: NZZ Georgios Kefalas/Keystone

Alles kann auch ganz anders sein
Wir glaubten, alles im Griff zu haben, da erinnerte uns ein Virus an unsere Verletzlichkeit schreibt Roman Bucheli in der NZZ vom 31. Dezember 2020. Ihm geht es in der Betrachtung um den Verlust von Freiheit, als man uns diese zu entziehen begann, als man uns ins Home-Office oder ins Altersheim ein- und aus den Kneipen aussperrte. Und er macht sich Gedanken über die Freiheit in einer liberal geordneten Gesellschaft, die durch ein kleines Virus nun in Frage gestellt wird. Wieweit soll oder darf der Staat in der Beschneidung der individuellen Freiheit gehen, auch angesichts dem in jüngster Zeit beobachteten Rückfall in unsere selbstverschuldete Unmündigkeit (grosse Parties an Sylvester). Wir «Alten» kennen noch die Zeit, wo wir nicht alles per Knopfdruck erledigen konnten. Was nicht heissen soll, dass wir geduldiger sind, findet Bucheli, aber unsere Lebenserfahrung hat uns gelehrt, alles was ist, könnte auch ganz anders sein. Das Leben ist voller Überraschungen, keine lückenlose Reihe von unausweichlich aufeinanderfolgenden Ursachen und Wirkungen. Mit dieser Erkenntnis sind wir («Alte») auch für Überraschungen der unangenehmen Sorte besser gewappnet.

Mehr Zeit zum Reflektieren
Geduld ist heute keine Tugend mehr, bemerkt der Schriftsteller Peter Bichsel (86) im Interview mit Annick Ramp in der NZZ vom 31. Dezember 2020. Alles muss im Jetzt stattfinden, alles dauernd «live» sein. Es brauchte mehr Zeit für Reflexion. Er habe zwar Verständnis für die Menschen, die sich schwertun mit den Corona-Massnahmen. Es gibt viele, die Sorgen haben. Aber es gab sie auch schon vor der Pandemie. So wie es auch zuvor schon unterbezahlte Pflegefachleute gab. Man kann nicht alles Corona in die Schuhe schieben. Leider lernen wir nichts aus der Pandemie und werden auch nicht solidarischer. Irgendwann ist der Corona-Spuk vorbei. Und dann wird die Schweiz immer noch die gleiche sein. Einfach die ersten zwei Jahre mit einem viel zu grossen Lager an medizinischer Grundausrüstung, das dann aber schon im dritten Jahr aus Kostengründen wieder abgebaut wird.

«Snowman» von Fischli/Weiss, Fondation Beyeler 2021, Riehen/Basel. Energie und Klimadiskussion

Der Glaube an das Machbare
Corona macht dem Glauben an die Machbarkeit einen dicken Strich durch die Rechnung. Es liegt im Wesen einer auf technologischen Fortschritt gebauten Gesellschaft, dass sie sich für unverwundbar hält, schreibt der Konrad Paul Liessmann (68), Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien in seinem Gastbeitrag in der NZZ vom 31.Dezember 2020. Es fällt uns schwer, Schwäche einzugestehen. Die oft gestellte Frage, was das Virus mit uns und der Gesellschaft, in der wir leben, macht, war immer schon falsch formuliert. Richtig müsste sie lauten: Wie reagieren wir auf die pandemische Bedrohung? Eine naheliegende, aber selten gegebene Antwort wäre: Wir sind gekränkt. All das, was die moderne Gesellschaft im vergangenen Jahr durchmachen musste, war in ihrem Fortschrittsprogramm nicht vorgesehen. Dieses orientierte sich an Parametern wie Wachstum, Beschleunigung, Optimierung, Sicherheit, Offenheit und Austausch. Seuchen gab es höchstens in Weltgegenden, die weder die europäischen Hygiene- und Gesundheitsstandards noch das unbedingte Vertrauen in eine aufgeklärte Wissenschaft kannten. Lange hatten wir dem Virus nichts anderes entgegenzusetzen als jene Massnahmen, die schon die Seuchenbekämpfung des Mittelalters gekennzeichnet hatten: Absonderung, Kontaktvermeidung, Desinfektion. Vorübergehende Einschränkungen werden nicht als Unannehmlichkeiten wahrgenommen, sondern als dramatische Einschnitte in die Freiheit des Einzelnen.

Kompetente «Alte» stellen ihre Erfahrung auch im neuen Jahr zur Verfügung
«kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation bewusst sind und sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. Wir «Alten», Frauen und Männer, im Team auf Augenhöhe mit den «jungen Wilden», stellen unsere Erfahrung mit Leidenschaft zur Verfügung. Bitte bringen Sie sich ein und registrieren Sie Ihre Kompetenz kostenlos hier. Wir freuen uns auch über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch, oder hinterlassen Sie Ihren Kommentar weiter unten. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


Ein Projekt «von uns. für uns.»
Web: kompetenz60plus.ch I Mail: werner@kompetenz60plus.ch I
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