Blog, Industrie 4.0

#227- Weicher Fokus

Ohne Strom keine Zukunft
Auch wir «Alten» können uns für Forschung und Anwendungen im Bereich von Industrie 4.0 begeistern. Mit unserer, oft analogen, Erfahrung aus einem ereignisreichen Leben sind wir prädestiniert, an Zukunftsprojekten mitzuwirken. Sei es auf Augenhöhe im Team mit den «jungen Wilden», oder als Mentor*innen in Startups und KMU’s. Beispielsweise befasse ich mich seit über 10 Jahren mit intelligenten Materialien für nachhaltiges Bauen. 2010 konnten wir in der Schweizer Baumuster-Centrale Zürich «ShapeShift», eine kinetische Installation von Manuel Kretzer zeigen, die mit einer neuen Materialität für eine zukünftige Architektur experimentiert. Das Projekt unter dem Patronat der Professur Dr. Ludger Hovestadt CAAD der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit der EMPA untersuchte die mögliche Anwendung von elektroaktiven Polymeren (EPA) im baulichen Kontext und eröffnete eine neue Beziehung zum gebauten Raum. Als Alternative zur «Siliziumlösung», fasziniert mich auch das Potenzial der Grätzel-Zelle, eine Farbstoffsolarzelle mit einem Funktionsprinzip ähnlich der Photosynthese. Sie dient der Umwandlung von Lichtenergie in elektrische Energie und ist eine Anwendung aus der Bionik. Die Solarzelle ist nach Michael Grätzel, Professor an der EPFL Lausanne benannt, der sie 1991 erfand und 1992 patentieren liess.

Denken ausserhalb der Norm
Gut 10 Jahre später inspiriert den heutigen Blogbeitrag ein Bericht meiner Alma Mater im Juli 2021 Newsletter. Unter dem Titel «Soft Focus: Eine flexible Zukunft für Roboter» publizierte die UCLA University of California at Los Angeles aktuelle Forschungsergebnisse auf dem Gebiet Robotik und künstlicher Intelligenz. Während Projekte der beiden Schweizer ETH’s überwiegend mechanische Lösungsansätze verfolgen, legen die Kalifornier den Grundstein für Material mit erstaunlichen Fähigkeiten. Ein Team rund um Dennis Hongs Fakultätskollegen an der UCLA Samueli School of Engineering könnte dabei unser Denken erweitern.

Die Entdeckung des Unbekannten
«Traditionell bauen wir Maschinen auf der Grundlage der Materialien, die wir haben, wobei sich Stahl und Gummi sehr gut bewähren», sagt Qibing Pei, Professor für Materialwissenschaften und -technik. «Allerdings sind wir durch unsere Materialien auch eingeschränkt und bestimmte Tätigkeiten sind für heute existierende Roboter unmöglich. Also versuchen wir für diese Zwecke, weiche Materialien und Geräte zu entwickeln.» Weiche Roboter, die in der Lage sind, Aufgaben auszuführen, die der menschlichen Gesundheit und dem Wohlbefinden zugutekommen und die Entdeckung des Unbekannten vorantreiben. Pei und seine Kollegen beginnen herauszufinden, woraus diese weichen Roboter bestehen und wie sie sich bewegen werden. Sichere, gepolsterte Roboterassistenten könnten die Pflege von Senioren und Patienten übernehmen. Winzige weiche Roboter könnten ihre eigenen fantastischen Reisen im menschlichen Körper unternehmen, um Operationen durchzuführen.

Die Bedeutung von Geschmeidigkeit
Die Gruppe von Ximin He entwickelte ein Material, das von Ingenieuren verwendet wurde, um Roboterarme herzustellen, die dem Tentakel eines Oktopus ähneln. Weiche Roboter wären potenziell sicherer als herkömmliche. «Die wichtigste Anwendung, die wir uns für weiche Roboter vorstellen können, wäre die Interaktion mit zerbrechlichen Objekten und Menschen», sagt Lihua Jin, Assistenzprofessor für Maschinenbau und Luft- und Raumfahrttechnik. Darüber hinaus suggeriert die Leichtigkeit eines weichen Roboters einen einfachen Transport. Ähnlich wie ein grosser Oktopus sich durch ein kleines Loch zwängen kann, können weiche Roboter an Stellen gelangen, welche starre nicht erreichen. Die vordefinierten Parameter der Gelenke traditioneller Roboter schränken ihre Bewegungen ein, während ein flexibler Roboter möglicherweise nur wenige Einschränkungen in der Art und Weise hat, wie er sich dehnen, drehen und verändern kann. Gebaut mit der Fähigkeit, einzuknicken um dann in seine ursprüngliche Form zurückzukehren, könnte ein weicher Roboter auch widerstandsfähiger sein.

Es braucht einen Mentalitätswandel
Jonathan Hopkins, ausserordentlicher Professor für Luft- und Raumfahrt und Maschinenbau ist der Meinung, dass unsere Gesellschaft vom Irrglauben wegkommen muss, dass man robuster ist, wenn man gross und steif sei. Eigentlich ist das Gegenteil der Fall, glaubt er und denkt an die dünnen Palmen, die sich biegen und Hurrikane überleben, während starke Telefonmasten einknicken. Der japanische Architekt Shigeru Ban beispielsweise, baut seit Jahrzehnten robuste Konstruktionen aus Papier und Karton. Die Forscher, welche die Entwicklung in Richtung weicher Maschinen vorantreiben, sind Teil eines grösseren Kaders aussergewöhnlicher Robotik-Forscher auf dem Campus mit mehr als einem Dutzend UCLA-Labors. Dazu gehören zwei weitere Superstars: Jacob Rosen, einen Experten für Operationsroboter, und Veronica Santos, die künstliche Hände entwickelt.

Grätzel-Zelle (Schulprojekt) Bild: Sebastian Spohner, Dr. Dietmar Scherr

Ein Materialproblem
Während sich Ingenieure auf die Suche nach neuartigen Materialien für Softroboter machen, wollen sie den Materialien selbst wichtige Eigenschaften zu eigen machen. Ximin He, Assistenzprofessor für Materialwissenschaften und -technik arbeitet an intelligenten Materialien, welche Bewegung mit Fähigkeiten wie Sensorik oder Leitfähigkeit integrieren. Intelligente Materialien könnten eine kleine Rechenleistung übernehmen, die Umgebung erfassen und mit Formänderungen reagieren. Pei ist unterdessen führend bei weichen Materialien, die sich die Elektrostatik zunutze machen, die Wechselwirkungen zwischen geladenen Teilchen im Ruhezustand. Er arbeitet auch mit Nanotechnologie und nutzt Phänomene, die im Milliardstelbereich passieren. Diverse Forschungsrichtungen verbinden sich in den Aktivitäten von Jins Gruppe. Jin entwickelt nicht nur verschiedene Materialien, sondern modelliert auch, wie Materialien auf ihre Umgebung reagieren. Der «OsciBot», eine einfache weiche Maschine, die bei Lichteinfall durch Wasser paddelt, ist aus der Forschung von He und Jin hervorgegangen. Sein Labor hat auch künstliche Sehnen und synthetische Muskeln entwickelt, die potenziell zehnmal stärker waren als ihre menschlichen Gegenstücke. Pei hat auch ein patentiertes Material für ein LED-Display, das sich auf das Doppelte seiner ursprünglichen Grösse dehnen lässt.

Bewegungen machen
Während sich seine Kollegen für weiche Roboter interessieren, beschäftigt sich Khalid Jawed mit ihren möglichen Formen und Bewegungsweisen. Jawed, Assistenzprofessor für Maschinenbau und Luft- und Raumfahrttechnik, studiert die unglaublich komplexen Parameter der Bewegung einer flexiblen Maschine. Hopkins, der sich auch mit Formen und Mechanik beschäftigt, verfolgt einen weitreichenden Ansatz für flexible Maschinen. Er hat einen luftbetriebenen Aktuator entwickelt – die Komponente, die es einem Roboter ermöglicht, sich selbst und Objekte um ihn herum zu bewegen – den er aus Gummi formt. Seine Vision umfasst auch Verbesserungen von 3D-Drucktechniken zur Entwicklung flexibler Materialien. Die von Hopkins entworfenen Materialien leiten ihre Eigenschaften mehr von ihrer Struktur und Mechanik in verschiedenen mikroskopischen Massstäben ab als von ihrer chemischen Zusammensetzung. Mutter Natur selbst könnte als die ursprüngliche Ingenieurin der weichen Maschinen angesehen werden. Dementsprechend ist die Biologie eine wichtige Inspiration für die UCLA-Forscher.

Carpenter ant | insect | Encyclopedia Britannica Inc.

Andere Inspirationen sind eher esoterisch: Der «OsciBot» paddelt bei Lichteinfall, ähnlich wie eine Sonnenblume ihr Gesicht der Sonne zuwendet. Der flexible Aktuator von Hopkins orientiert sich an den Beinen einer Spinne und dem zugrunde liegenden hydraulischen Mechanismus und vergleicht seine architektonischen Materialien mit der komplizierten, mikroskopischen Konfiguration der Schuppen auf den Flügeln eines Schmetterlings.

«kompetenz60plus.ch»
Mit unserer Erfahrung und Engagement aus der analogen Welt sind wir «Alten» gerüstet, im Team zusammen mit dem digitalen Wissen der «jungen Wilden», Prioritäten und Ideen mit Engagement und auf Augenhöhe in Ergebnisse umzusetzen. «kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation bewusst sind und sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. Bitte bringen Sie sich ein und registrieren Sie Ihre Kompetenz kostenlos hier. Wir freuen uns auch über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch, oder hinterlassen Sie Ihren Kommentar weiter unten. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


Ein Projekt «von uns. für uns.»
Web: kompetenz60plus.ch I Mail: werner@kompetenz60plus.ch I
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