Blog, Industrie 4.0

#334 – «Alte» im Zeitalter der Irrationalität

Inkrementelle Innovationen
Erfahrung habe nichts mit dem Alter zu tun und man dürfe auch von jüngeren lernen, befand der Autor eines Beitrags auf dem sozialen Netzwerk LinkedIn und scheint dabei Lernen und Wissen mit Erfahrung zu verwechseln. Erfahrung und Fachwissen beziehen sich immer auf Vergangenes. Zukunft braucht Herkunft – da spielt das Alter eine entscheidende Rolle. Wir «Alten» verfügen über Erfahrungen als Resultat jahrelanger Auseinandersetzungen mit Problemen, kombiniert mit lebenslanger Weiterbildung, Freude und einem hohen Mass an Neugierde. Die Entwicklung von KI, künstlicher Intelligenz, ist eine Technologie, wo mehr den je unsere Erfahrung und der gesunde Menschenverstand gefragt sind. Egal, ob Text, Datenbank oder Modell – weiterhin unerlässlich sind fachkundige Menschen, die den Output kritisch prüfen und korrigieren. Eine erfolgreiche Digitalisierung fordert zudem auch unsere zwischenmenschlichen und kommunikativen Fähigkeiten heraus.

Die eindimensionale Sicht der Evolution contra Disruption
Unter Evolution versteht man im deutschsprachigen Raum in erster Linie die biologische Evolution. Darunter wird die von Generation zu Generation stattfindende allmähliche Veränderung verstanden. Im Zusammenhang mit der KI sind vor allem neue Konzepte der digitalen Wissensvermittlung gesucht, weg von vorprogrammierten Abläufen mit den immer gleichen Resultaten. Neues Denken ist nicht linear, kleinschrittig oder im ja-nein-Modus. Zwar basieren neue Entwicklungen auf alten Erkenntnissen. aber die Glühbirne ist keine Weiterentwicklung der Kerze, schon 1801 war dies eine disruptive Entwicklung. Die Kompetenz von uns «Alten» ist Mut, Innovation, das Erlebt-haben von Scheitern und Wiederaufstehen, ohne den Leistungsdruck und das Karrieredenken der Jungen.

Kunsthaus Zürich: Pipilotti Rist (61) schweizer Videokünstlerin, Installation Pixelwald Turikum 2021

Die Macht der Biologie
Aus dieser Optik scheinen echt intelligente Maschinen weiter weg zu sein als uns recht ist. In seinem kritischen Beitrag beweist der schweizer Physiker und Philosoph Eduard Kaeser (75) in der NZZ vom 26.August 2023, mittels der Macht von Biologie, wie uns immer wieder Fehlschlüsse bezüglich Maschinenintelligenz unterlaufen. Er beginnt mit dem Fehlschluss des ersten Schritts: Denn es ist überhaupt nicht ausgemacht, ob der gegenwärtig bevorzugte Ansatz, künstliche Intelligenz herzustellen, auf ein allgemeineres Niveau der Intelligenz führt, wie wir es von Lebewesen her kennen. Während KI-Systeme bis jetzt sehr erfolgreich waren im Bewältigen von spezifischen Aufgaben, ist nicht bewiesen, dass mit kontinuierlicher Steigerung dieser Fähigkeiten am Ende die allgemeine künstliche Intelligenz erreicht wird. Mit Plänen weiss man, was man hat. Man hat allerdings auch nur, was man schon weiss. In ihrem TED-Talk vom März 2022, spricht Karen E. Willcox, Direktorin des Oden Instituts für Computational Engineering and Sciences an der University of Texas at Austin, über ihre Forschung: Mittels dynamischer Datenassimilation entstehen digitale Zwillinge, die uns Einblicke in die Zukunft geben können.

Fortschritt ist nicht immer mehr vom Gleichen
Für Kaeser macht sich dabei ein verwandter Fehlschluss bemerkbar: Fortschritt ist immer mehr vom Gleichen; immer mehr Daten, immer mehr Rechenkapazität, immer mehr «Neuronenschichten». Das Wundermittel: Hochskalieren, schreibt Kaeser und erinnert an das Sprichwort: Wer nur einen Hammer hat, sieht in allem bloss Nägel, scheint in KI-Kreisen der Einsicht zu weichen, dass Intelligenz viel mehr mit der organischen Hardware – der «Wetware» – zu tun haben könnte als bisher angenommen. Starke Intelligenz ist bis jetzt biologische Intelligenz, wobei nichtmenschliche Lebewesen Probleme lösen, die dem Menschen gewaltiges Kopfzerbrechen abverlangen. Ich denke dabei gerne an Ameisen und bin fasziniert davon, wie diese kleinen Organismen einen noch nicht begriffenenen Evolutionsvorsprung der Natur gegenüber den KI-Systemen aufweisen. Und die Frage stellt sich, inwieweit und ob sich dieser evolutionäre Reichtum überhaupt je völlig durch Algorithmen nachbauen lässt. Was nicht bedeutet, dass nur evolutionär entstandene Systeme intelligent sind, sondern dass in der künftigen KI-Forschung die Biologie ein gewichtiges Wort mitreden wird.

Commonsense fehlt den Maschinen
Ein weiteres Phänomen beschreibt Eduard Kaeser mit dem fehlenden «Hausverstand» von Maschinen. Denn ein Grossteil unserer Fähigkeiten ist implizit, wir können etwas, ohne genau zu wissen, wie und warum wir das können. Das Know-how ist Teil von körperlichen Automatismen, so auch die Erfahrung von uns «Alten». Ob sich in Maschinen etwas Analoges implementieren lässt, ist eine offene Frage. Er verweist auf eine höchst eigentümliche Asymmetrie: Vieles, was für die Menschen schwierig ist, ist für die Maschine leicht – und umgekehrt. Oft lösen Maschinen Probleme, die für uns harte Knacknüsse sind. Und oft scheitern sie an Problemen, die wir dank Commonsense, also Hausverstand, spielend lösen. Metaphern aus der Psychologie zur Beschreibung dieser Intelligenz sind deshalb irreführend, schreibt Kaeser weiter und zitiert den Computerwissenschafter Drew McDermott (74) der 1976 den Begriff der «hoffnungsvollen Eselsbrücke» («wishful mnemonics») prägte. Denn wir wünschen uns, dass der Computer es macht wie wir, also nutzen wir anthropomorphisierende Wörter für ihn, wie lesen und verstehen, ohne Erklärung was mit «lesen» und «verstehen» genau gemeint ist.

Haus Konstruktiv: Chiharu Shiota (51), japanische Künstlerin, Installation Eye to Eye 2023. Lange Nacht der Museen Zürich, 2023

Der künstlichen Intelligenz fehlt Biochemie
Intelligenz beruht auf Gehirnaktivitäten, letztlich auf Biochemie. Unser Gehirn bewältigt eine Unmenge an Informationen im Ur-Modus, in dem wir nicht in einen «höheren Denkgang» schalten müssen, sondern einfach die Automatismen unserer neuronalen Schaltkreise – das Unbewusste – arbeiten lassen. Das künstliche Gehirn modelliert diesen Vorgang mathematisch, indem es den chemischen Vorgang durch einen Zahlenwert des künstlichen Neurons, das Gewicht, ersetzt. Wie es scheint, sind die Fehlschlüsse bereits Bestandteil unserer gängigen Vorstellung über Maschinenintelligenz, sie wurden zur Selbstverständlichkeit und tendieren dazu, ins kollektive Unbewusste zu sinken und sich dabei in ein «Gefühl» zu verwandeln. Wir haben das Gefühl, KI-Systeme würden «denken», uns gegenüber «feindlich» gestimmt sein, uns vielleicht beherrschen «wollen». Ein Grossteil der gegenwärtigen Pop-Kultur rund um die KI bestärkt dieses Gefühl. Obwohl, nein, weil diese Vorstellungen einer kritischen Befragung nicht standhalten, verhexen sie unseren Verstand. Sie bilden die Mythologie maschineller Intelligenz, folgert Eduard Kaeser und schreibt von einem völlig irrationalen Zeitalter.

kompetenz60plus.ch, das Netzwerk von kompetenten «Alten»
kompetenz60plus.ch ist ein Netzwerk von kompetenten Fachleuten. Erfahrene «Alte» unterstützen KMU’s und Start-ups bei der Umsetzung innovativer Ideen und bei Herausforderungen aller Art – auf Augenhöhe. Registrieren Sie Ihre Kompetenz ➔ hier kostenlos oder suchen Sie auf unserem Portal eine Fachperson mit geeigneter Kompetenz. Unkompliziert und zu moderaten Bedingungen. Kontaktieren Sie uns mit Ihren Interessen, Fragen und Anregungen, ganz unverbindlich, per Mail an werner@kompetenz60plus.ch. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator

Ein Projekt «von uns. für uns.»
Web: kompetenz60plus.ch I Mail: werner@kompetenz60plus.ch I
Linkedin: kompetenz60plus.ch | facebook: kompetenz60plus
X: wernerkruegger