Blog, Industrie 4.0

#283 – «Alte» in der Regenbogenkarriere

Das AHV-Referenzalter als psychologischer Fixpunkt
Aus historischer Sicht ist die Möglichkeit für einen gestaffelten Rückzug aus dem Berufsleben keine Selbstverständlichkeit. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein hätten die Menschen bis «ins Grab» gearbeitet, sagt der Zürcher Soziologe Prof. Dr. phil. François Höpflinger (74), der Alters- und Generationenfragen erforscht, im Beitrag von Pierre Weill, NZZ vom 15. August 2022. Die wirtschaftliche Sicherheit im Alter hing weitgehend von der Möglichkeit und der Fähigkeit ab, im angestammten Beruf weiterzuarbeiten. Armut im Alter war ein häufiges Risiko, vor allem in Berufen, in denen die Körperkraft über das Einkommen bestimmte. Im Rahmen der gegenwärtigen Debatte zur AHV-Reform ist das «richtige» Rentenalter, vor allem für Frauen, im Zentrum der Diskussion. Nicht nur finanziell, auch psychologisch scheint das AHV-Referenzalter eine wichtige Rolle zu spielen. Gemäss einem Interview von Katharina Fontana und Christina Neuhaus in der NZZ vom 9. August 2022, mit der Ökonomin Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Bütler (61), Honorarprofessorin für Wirtschaftspolitik, ist dieses tatsächlich seit Jahrzehnten ein Fixpunkt, nach dem sich die Menschen orientieren. Wobei Männer scheinbar eher aus Freude länger arbeiten und Frauen häufiger, weil sie finanziell darauf angewiesen sind.

Rücktritt aus der ersten Reihe
Im Alter von 62 Jahren hatte ich das Glück, die Leitung einer öffentlichen Ausstellung und Materialsammlung für das Bau- und Planungsgewerbe mit zehn Mitarbeitenden zu übernehmen. Der Verwaltungsrat dieser 1935 gegründeten Genossenschaft, suchte jemanden für die Neuausrichtung des angestaubten Geschäftsmodells. Eine traditionsreiche Institution zu leiten, war für mich als Architekt mit eigenem Büro eine neue Erfahrung, die ich mit viel Enthusiasmus anpackte. Dank allseitiger Unterstützung gelang der Gesamtumbau zur heute erfolgreichen Drehscheibe rund ums Bauen. Mit zunehmendem Alter werden operative Tätigkeiten jedoch immer mehr zur Belastung. Zusammen mit dem Verwaltungsrat wählten wir deshalb als Datum meinen 70. Geburtstag, um die Führung an meinen Nachfolger (interne Lösung) zu übergeben. Zur Sicherstellung und Weitergabe von Erfahrung und Netzwerk, sowie den Wissenstransfer zu Kolleginnen und Kollegen, verhandelte ich ein Beratungsmandat auf unbestimmte Zeit, das mit dem Ausbruch der Pandemie in 2020 und der vorübergehenden Schliessung der Sammlung sein logisches Ende fand.

Georg Baselitz (84) deutscher Maler und Bildhauer (noch aktiv): Arrivare con cenere, 2019. Thaddaeus Ropac Galerie, London

Flexibilität dank Regenbogenkarriere
Unter dem Titel: «Freiwilliger Karriereabstieg und Lohnverzicht: warum es mit zunehmendem Alter sinnvoll sein kann, sich zurückstufen lassen» schreibt Pierre Weill im eingangs erwähnten Beitrag der NZZ, wie progressive Unternehmen ihren Mitarbeitenden eine Reduktion von Anforderungen und Führungsverantwortung, als Alternative zur Kündigung oder Pensionierung anbieten. In der Wissenschaft nennt man den schrittweisen Rückzug aus dem Arbeitsleben Regenbogenkarriere. Der Begriff stammt vom amerikanischen Psychologen und Erzieher Donald E. Super (1910–1994). Er unterscheidet in seinen Forschungspapieren zwischen fünf Laufbahnstadien, Phase 5 bezeichnet er dabei als Rückgang. Ab 65 Jahren erfolgt die schrittweise Reduktion von Anforderungen, Lohn und Führungsverantwortung. Vergleicht man die Leistungsfähigkeit älterer und jüngerer Arbeitnehmenden, zeigt sich, dass die Produktivität von uns «Alten» laut dem Soziologen François Höpflinger gleich oder sogar höher ist als bei jüngeren Mitarbeitenden. Wir arbeiten im Schnitt sorgfältiger und können aufgrund unserer Erfahrung besser mit schwierigen Situationen umgehen, beispielsweise mit fordernden Kunden. Dagegen brauchen wir «Alten» laut Studien mehr Licht, längere Ruhephasen, und Multitasking fällt uns schwerer. «Ältere Mitarbeitende sind in Grossraumbüros schneller abgelenkt, da sie Hintergrundgeräusche weniger gut ausblenden können. Sie sind weniger häufig abwesend als jüngere, doch dauern die Absenzen länger», sagt Höpflinger.

Freiwilliger Karriereabstieg mit Lohnreduktion
Mit dem Ausbau der Altersvorsorge sanken Zahl und Anteil an Frauen und Männern, die nach dem 65. Lebensjahr weiterhin erwerbstätig waren. «Erst in den letzten Jahren haben sich die Erwerbsquoten der 65- bis 69-Jährigen wieder leicht erhöht», stellt Höpflinger fest. Dass insbesondere ab 60 Jahren die Erwerbsquote rasch sinkt, hat verschiedene Ursachen. Manche Arbeitnehmende sind arbeitsmüde und können sich dank soliden finanziellen Mitteln aus Rente und Erspartem die zusätzliche «Freizeit» leisten. Oder aber sie haben keine Möglichkeit mehr, beim bisherigen Arbeitgeber weiterzuarbeiten. Ältere Arbeitnehmende haben oft Mühe damit, dass sie die besten Jahre ihrer Karriere bereits hinter sich haben. In Unternehmen ist deshalb nicht das Alter der Angestellten das Problem, sondern der Generationenunterschied. Plötzlich erhalten ältere Mitarbeiter jüngere Frauen als Vorgesetzte. Oder jüngere Forschende sind mit neuen Algorithmen erfolgreicher als die älteren. «Alte», die sich eine Regenbogenkarriere vorstellen können, müssen sich fragen, ob sie bereit sind, sich zurückstufen zu lassen und ihre Chefposition einer jüngeren Person zu überlassen und dabei auch eine Lohnsenkung anzunehmen. Neben der Rückstufung besteht auch die Option, sein Stellenpensum zu reduzieren. Die Bereitschaft zu einem derartigen Schritt beruht auch auf der eigenen Erkenntnis, dass man nicht mehr immer in der Lage ist, das frühere Leistungsniveau zu erbringen. Unabhängig von der Ausgestaltung des Arbeitsmodells gilt: Auch bei einem tieferen Pensum muss man offen sein für Weiterbildungen.

«kompetenz60plus.ch»
Mit unserer Erfahrung aus der analogen, zusammen mit Erkenntnissen aus der digitalen Welt, sind wir «Alten» gerne bereit, diese mit KMU’s oder im Team mit jungen Forschenden und Wissenschaftern auf Augenhöhe zu teilen. «kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. Bitte bringen Sie sich ein und registrieren Sie Ihre Kompetenz kostenlos hier. Wir freuen uns auch über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch, oder hinterlassen Sie Ihren Kommentar weiter unten. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


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Web: kompetenz60plus.ch I Mail: werner@kompetenz60plus.ch I
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