Blog, Industrie 4.0

#208 – Arbeiten und Lernen auf Distanz

Die Gestaltung der Digitalisierung
Viele von uns nähern sich ihrem einjährigen Jubiläum der Fernarbeit. Während Telearbeit und sogar vollständig virtuelle Unternehmen nicht neu sind, wurde dieser Trend durch COVID-19 beschleunigt. Unsere einzigartigen Erfahrungen mit der Pandemie können und haben unsere Ansichten zur Unternehmenskultur und zu den Beziehungen zwischen Management und Mitarbeitenden beeinflusst. Vor diesem Hintergrund machen wir uns Gedanken über den sich ändernden Arbeitsplatz und darüber, wie Unternehmen das neue Gleichgewicht zwischen Unabhängigkeit, Zusammenarbeit, Qualitätskontrolle und Flexibilität angehen. Auch Bildungsinstitutionen und das Lehrlingswesen können sich dieser Diskussion nicht entziehen. Wie gestalten wir Schule oder die Ausbildung zum Beruf mit zunehmender Digitalisierung?

Digital affine Nomaden im Vormarsch
Viele haben sich gemütlich im Home-Office eingerichtet und wollen diese Arbeitsform auch nach der Pandemie nicht mehr missen. Das könnte aber in einem bösen Erwachen enden. Denn was bequem zu Hause getan werden kann, lässt sich oft billiger auch im Ausland erledigen. Ob die Befürchtungen im Kommentar von Thomas Fuster, NZZ vom 16. Februar 2021 wirklich zutreffen, wird sich zeigen. Digital affine Nomaden können mit der Idee einer fixen Arbeitsstätte, wo kollektiv gelesen, geschrieben und gerechnet wird, ohnehin wenig anfangen. Für sie ist ein Bürogebäude ein Relikt aus einer Epoche, als es weder Laptops noch Internet gab, stellt Fuster fest. Die meisten Unternehmen werden nach der Pandemie kaum zum Status quo ante zurückkehren. Denn der Tatbeweis scheint erbracht, dass viele Arbeiten im Heimbüro erledigt werden können. Und bewiesen ist auch, dass es für Sitzungen nicht zwingend grosse Räume braucht, sondern oft nur kluge Software.

Human Computer Interaction und Design, Carnegie Mellon University, Pittsburgh, Pennsylvania

Weltweite Konkurrenz
Doch nicht für alle Jobs ist das Home-Office eine Option. In der Bauwirtschaft, der Industrie oder im Gastgewerbe können die meisten Tätigkeiten – sei es das Schreinern, Montieren oder Kochen – schlecht von zu Hause aus erledigt werden. Betroffen sind auch Ärzte und Pflegende im Gesundheitsbereich. Erinnert sei ebenfalls ans Putzen, das auch in Pandemiezeiten dort zu erledigen ist, wo der Schmutz anfällt. Wo der Home-Office-Anteil derzeit bei über 80 Prozent liegen dürfte, finden wir den Banken- und Versicherungssektor, die kaufmännischen Berufe oder die IT-Branche. Da könnte sich gemäss Thomas Fuster mancher Arbeitgeber schon bald die folgende Überlegung anstellen: Wenn gewisse Arbeiten unkompliziert im Home-Office erledigt werden können, muss es doch auch möglich sein, dieselben Arbeiten in kostengünstigen Randregionen oder gar im Ausland auszuüben. Denn alles, was es braucht, sind ein stabiles Internet und einen Computer. Die geldwerten Vorteile entsprechender Auslagerungen liegen auf der Hand: Teure Büroflächen werden eingespart und die Lohnkosten sinken, wenn die Arbeit neu in der Ukraine oder auf den Philippinen erfolgt. Zudem kann man bei offenen Stellen plötzlich auf Bewerbungen aus allen Kontinenten zurückgreifen.

Auslagerung und Automatisierung
Thomas Fuster stützt sich auf eine Arbeit der Universität Basel, die zu ähnlichen Schlüssen kommt. Unter dem Titel «Heute Home-Office, morgen Offshoring» haben zwei Ökonomen (Rolf Weder und Christian Rutzer) diverse Berufe auf ihre Eignung für Telearbeit untersucht. Es zeigt sich, dass jene Berufe, die sich besonders gut zu Hause erledigen lassen und derzeit als relativ krisenresistent gelten, in Zukunft zusehends unter Druck geraten dürften, sei dies aufgrund von Auslagerung oder von Automatisierung. Das gilt notabene auch für die Arbeit der Studienautoren selbst, also für das Forschen und Unterrichten. Denn wenn Vorlesungen vor allem online stattfinden, können sich Schweizer Studierende statt in Basel auch an einer Universität in den USA einloggen. Jeder Dozent im Home-Office steht damit immer stärker in direktem Wettbewerb mit den globalen Koryphäen seines Fachs.

Alter Wein aus neuen Schläuchen
Im seinem Gastkommentar, NZZ vom 19.02.2021, fordert Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, dass das Homeschooling endlich pädagogisch professionell zu gestalten sei. Lernende werden für mehrere Stunden am Tag mit monotonen Videokonferenzen an die Geräte gefesselt. Bei aller Freude über das Funktionieren der Technik, die Pädagogik darf nicht vergessen werden: Klarheit, Herausforderung, Motivierung und Rhythmisierung sind wichtiger denn je. Allen voran bleibt die Beziehungsarbeit als wichtigste Aufgabe, das heisst Feedback in alle Richtungen und so oft es geht. Zudem ist Masshalten angesagt, insbesondere bei den Lehrplaninhalten. Eine Entrümpelung der Lehrpläne ist somit unabdingbar, was übrigens nicht erst seit der Corona-Pandemie eine berechtigte Forderung ist. Eine Digitalisierung, die sich an der Pädagogik orientiert – und nicht die sinnlose Umkehrung nach dem Motto: «Hauptsache, digital, weil digital modern ist.» Es gibt so viele engagierte Lehrpersonen. Warum nicht diese zusammenschliessen, um in der Kürze der Zeit ein Notprogramm auf die Beine zu stellen? Die Bildungspolitik müsste die Führung übernehmen und endlich ihre Stärke unter Beweis stellen.

Neuausrichtung im Bildungssektor
Es genügt nicht, analoge Texte aus Lehrbüchern zu digitalisieren und den Frontalunterricht anstatt im Klassenzimmer, einfach am Bildschirm weiter zu führen. In der gegenwärtigen ausserordentlichen Lage müssen wir die Vorteile der weltweiten digitalen Vernetzung konstruktiv nutzen. Lehrpersonen können sich dabei auf die bereits vorhandene Computeraffinität der jungen Leute verlassen. Aus tausenden von Lernangeboten angesehener Institutionen, sei hier nur ein Beispiel für digitales Lernen erwähnt: In seinem Buch «The Last Lecture», Hyperion Verlag New York, NY, 2008, beschreibt Randy Pausch (1960-2008), ehemaliger Professor für Computer Wissenschaft, Human Computer Interaction and Design an der Carnegie Mellon University, seine Erfahrung mit «Alice». Alice wurde als Rapid-Prototyping-Anwendung für Live-Publishing-VR-Erlebnisse mit dem Ziel erarbeitet, für Nicht-Programmierer zugänglich zu sein und den Inhalt von VR Virtuelle Realität voranzutreiben. Die Version von Alice wurde an der Universität von Virginia in den 1990-er Jahren geboren und ermöglichte es Randy’s Stage 3-Forschungsgruppe, wichtige Beiträge zur Erforschung von VR-Erfahrungen zu leisten. Das zur Programmierung von Videospielen geschaffene Lehrmittel ist kostenlos und wird weltweit von Lehrenden auf allen Ebenen verwendet, von Mittelschulen (und manchmal sogar jüngeren) bis zu Universitäten, in Schulklassen und nach der Schule und ausserhalb der Schule sowie in Fächern, die von bildender Kunst und Sprachkunst bis zu den Grundlagen der Programmierung und Einführung zu Java-Kursen reichen. Kinder und Jugendliche lernen auf spielerische Weise das Geschichtenerzählen oder gesellschaftliche Zusammenhänge.

Aus den Augen, aus dem Sinn
Die Fernarbeit und Fernunterricht taugen nur bedingt als Ersatz für das physische Zusammenkommen von Menschen. Aus den Unternehmen mehren sich jedenfalls die Klagen über den Verlust von Innovation und Kreativität. Das Potenzial für Missverständnisse aus blutleeren Videokonferenzen ist gross, wenn man den Menschen nicht direkt gegenübersitzt und deren Stimmung oder Körpersprache nicht lesen kann. Das Spontane, Zufällige und Überraschende – kurz: das Kreative – entspringt selten einem Flachbildschirm. Nach dem Ende der Pandemie möglichst rasch wieder an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren und dort seinen Wert unter Beweis zu stellen scheint sinnvoll, um dem Szenario «aus den Augen, aus dem Sinn, aus dem Job» zu entgehen. In Zukunft werden in ausgewählten Branchen verstärkt hybride Arbeitsformen – also ein Nebeneinander von zentralem und ortsunabhängigem Schaffen – zur Anwendung kommen. Gewisse Firmen finden neben der gemeinsamen Sprache, Kultur und Zeitzone kaum noch Gründe, die Stellen von Mitarbeitern nicht gleich dorthin zu verlegen, wo auch die Kosten niedriger sind. Schulen müssen die riesigen Ressourcen im Internet vermehrt zu ihrem Vorteil nutzen.

Krisenerprobte und kompetente «Alte»
«kompetenz60plus.ch» ist ein Sammelbecken für kompetente Senioren, die sich ihrer Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation bewusst sind und sich aktiv an der Diskussion über die Zukunft beteiligen wollen. Wir «Alten», Frauen und Männer, im Team auf Augenhöhe mit den «jungen Wilden», stellen unsere Erfahrung mit Leidenschaft zur Verfügung. Bitte bringen Sie sich ein und registrieren Sie Ihre Kompetenz kostenlos hier. Wir freuen uns auch über Ihre Kontaktnahme per Mail an: werner@kompetenz60plus.ch, oder hinterlassen Sie Ihren Kommentar weiter unten. Danke!

Werner K. Rüegger, dipl. Arch. SIA AIA
Projektadministrator und Initiator


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