Industrie 4.0

Phantasie oder «Kontemplation»

Nur der Glückliche phantasiert nie
Auszugsweise aus einem Beitrag in der NZZ vom 8. November 2016, von Roman Bucheli

Hat unsere Vorstellungskraft vor der Macht des Faktischen kapituliert? Die Phantasie sollte aber nicht nur die kleine Schwester der Vernunft sein. Sie ist ihr Alter Ego, ihr Antrieb. Sie braucht darum mehr Spielraum.

Imagination
Träumer werden jene geheissen und Phantasten, die stets halb neben der Spur gehen. Schon aus dem Wort hört man den abschätzigen, manchmal sogar argwöhnischen Unterton heraus. Man begegnet der Phantasie mit Herablassung oder mit gönnerhafter Grosszügigkeit, ernst nimmt sie aber spätestens da kaum einer mehr, wo der angebliche Ernst beginnt. Dabei täte eine starke Vorstellungskraft gerade dort not, wo an der Zukunft gebaut wird. Ob wir sie Phantasie nennen, Einbildung oder Imagination: Sie vergegenwärtigt das Abwesende kühner, freier und überraschender als jede Vernunft.

Anarchie des Denkens
Imagination meint anderes, so heisst das Denken in seiner anarchischen Form. «Organ des Empfangens» nannte Adorno die Phantasie. Er legte den Akzent auf das Passive des Geschehens und weniger auf das Aktive des tätigen Forschens und Suchens. Das Denken bringt das Nächstliegende hervor, da es Schritt für Schritt und deduktiv sich vorantastet; die Phantasie schöpft nicht aus dem Nichts, aber fast ansatzlos die Überraschung, weil sie sprunghaft und induktiv ins Leere und Offene gelangt.

Die Vernunft steht an der Werkbank
Die Phantasie scheint vor der Macht des Faktischen kapituliert zu haben. Wir leben in einer Zeit und in einer Welt des Primats der Vernunft. Das Denken hat uns ganz schön weit gebracht. Damit es uns und die Welt noch ein Stück weiter oder überhaupt noch weiter bringt, leisten wir uns Think-Tanks und nennen sie hierzulande Denkfabriken. Der Jargon will nichts besagen und verrät doch alles. Die Vernunft steht an der Werkbank und hat ihr Soll zu erfüllen, indem sie Lösungen hervorbringt, Antworten auf drängende Fragen. Das Denken ist praktische Vernunft geworden in ihrer pragmatischsten Ausprägung.

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Das riskante Denken der Gegenwart
Auszugsweise aus einem Beitrag in der NZZ vom 17. November 2016, von Hans Ulrich Gumbrecht

Nicht mehr die den tiefen Wahrheiten verpflichteten Forscher besetzen heute die Rolle der intellektuellen Helden (oder Pop-Stars). Vielmehr ist es der Typ des Ingenieurs, der das Alltagsleben einschneidend und unumkehrbar verändert, ohne dabei je einen Wahrheitsanspruch zu erheben: Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg zum Beispiel; die Google-Gründer Larry Page und Sergei Brin, ihre frühere Kollegin Marissa Mayer oder der in Südafrika geborene Tesla-Chef Elon Musk.

Veränderung des Denkstils
Worin genau ihre individuelle Innovationsleistung lag, wer die ausschlaggebenden Ideen für den Apple-Screen, das iPhone, die Suchmaschinen, den Navigator oder das selbststeuernde Auto hatte, ist in der Öffentlichkeit kaum mehr nachvollziehbar. Der Geist unserer Gegenwart hat – so scheint es – im Silicon Valley Quartier genommen (oder in Hyderabad, dem besonders lebhaften indischen Zentrum des elektronischen Denkens). Diesen Ortswechsel von Europa nach Kalifornien oder Südindien hat eine Veränderung des Denkstils begleitet.

«Kontemplation»
Die Denkform von Ingenieuren und Designern liesse sich deshalb als «Kontemplation» beschreiben, das heisst als eine fokussierte und zugleich entspannte Konzentration, die offen für das Unerwartete der eigenen Intuitionen und das unerwartete Andere ist. Kontemplation, das wissen wir aus der Tradition der Mystik, vollzieht sich am produktivsten in der Nähe zur Imagination, also in der Nähe zu Bildern und Visionen, die aus körperlicher Vertrautheit mit der Welt (eher denn aus abstrakten Begriffen) entspringen. Kontemplation und Imagination schliesslich gedeihen am besten unter der Rahmenbedingung einer Kopräsenz verschiedener Denkformen in wechselseitiger Offenheit – was genau es so schwer macht, die spezifischen Durchbrüche des riskanten Denkens je einzelnen Denkern zuzuschreiben.