Auszugsweise NZZ, Samstag 30. Juli 2016
Der «Wilde Westen» muss gezähmt werden:
Neue Medien als Problem für die Freiheit von Veit Dengler, CEO der NZZ-Mediengruppe. Das soziale und politische Leben erfährt durch die neuen Medientechniken fundamentale Veränderungen. Es braucht unser Zutun, damit eine freiheitliche Ordnung gewährleistet bleibt.
Persönlich bin ich optimistisch, dass Technologie und Fortschritt viele Probleme der Menschheit lösen, die zum Teil so alt sind wie der Mensch selbst. Die absolut positiven Aspekte, welche heute niemand mehr vermissen möchte sind:
■ Reduktion von Abhängigkeiten.
Wir werden zunehmend unabhängiger bei der Informationsbeschaffung, im Handel oder im Umgang mit Behörden. Vor zwanzig Jahren gab es Schalterbeamte, Öffnungszeiten, Wartezeiten und damit insgesamt einen höheren Aufwand, das eigene Leben zu organisieren. Heute hängt unser Wohl weniger von Bürokratie, Experten und Intermediären ab. In einigen Jahren werden wir das Lieblingsinstrument des Beamten – das Formular – abgeschafft haben und bedeutet in der Summe einen enormen Freiheitsgewinn für den Einzelnen.
■ Technischer Machtgewinn.
Mit einem Smartphone ist jeder problemlos in der Lage, Dinge durchzuführen, die früher nicht in seiner Macht standen: Wir können ortsungebunden kommunizieren und Finanztransaktionen tätigen. Wir können uns vom autonomen Auto fahren lassen. Ein Smartphone-Benutzer hat geradezu automatisch in vielen Hinsichten ein Leben, das sich früher nur die Oberschichten leisten konnten.
Dagegen gibt es Mahner, die natürlich die negativen Seiten dieses Fortschritts zu Recht beleuchten und nach Regeln, einem (analogen) Verhaltenscodex rufen. Nur stehen wir aktuell Milliarden von Akteuren mit unendlich vielseitigen Lebensbiografien gegenüber. Analoge Abläufe mit klar definierten Regeln sind deshalb nostalgisches Wunschdenken.
■ Diskursive Entgrenzung.
Diskurs ist nicht einfach die mehr oder minder amorphe Summe des Geredeten und Geschriebenen. Diskurs definiert sich durch Ein- und Ausgrenzungen, mithin dadurch, wer darüber entscheidet, wie wo was gesagt werden kann und soll. Die für politische Überlegungen wichtigsten diskursiven Differenzen sind heute aufgrund der neuen Medien massiv kontaminiert. Der wichtigste Grund für die Entgrenzung der Diskurse ist wohl die Tatsache, dass sich Äusserungen nicht konkreten Personen zuordnen lassen. Grundsätzlich kann jeder im Netz vordergründig anonym sein.
■ Neue Formen der Überwachung.
In der analogen Welt war eine Aufzeichnung ein Willensakt, etwa die Aufnahme von Interviews als für die Öffentlichkeit gedachte Statements, Protokolle vor Gericht oder die Niederschrift von für erinnerungswürdig Befundenem. In der digitalen Kommunikation findet Aufzeichnung nicht mehr aufgrund einer Entscheidung statt, sondern immer und überall. Das eröffnet bisher ungeahnte Überwachungsmöglichkeiten, gegen welche die Albträume von George Orwell und Ray Bradbury wie Apologien der Freiheit wirken.
Wichtig scheint mir, dass durch Angstmacherei und mittels Verschwörungstheorien die überwiegend positiven Technologiegewinne für die Einzelnen nicht ausgehebelt werden. Mit Staatsinterventionismus sollte man äusserst vorsichtig umgehen. Der Staat sind wir, die gesamte Gesellschaft, mit all unseren Unzulänglichkeiten. «The genie is out of the bottle», in einer globalisierten Welt liegt die Macht überall. Als Individuum ist der positive Beitrag vor dem Hintergrund der eigenen Kultur und der eigenen Werte zu sehen.